Es geht wohl auch ohne Hymne. Nach der Gründung der Vereinigten Staaten im Jahre 1776 dauerte es zum Beispiel noch anderthalb Jahrhunderte, bis die USA ihre verbindliche Nationalhymne „The Star-Spangled Banner“ bekamen. Der Text wurde zwar schon 1814 gedichtet. Und schon bald erklang es zu verschiedenen Anlässen, gesungen mit einer Melodie, die wenig Patriotisches hatte: Sie wurde von einem Trinklied übernommen, das überdies nicht amerikanischen, sondern britischen Ursprungs war. Anfang der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts forderten dann fünf Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner in einer Petition, „The Star-Sprangled Banner“ solle Nationalhymne werden. Nachdem Senat und Repräsentantenhaus dem zugestimmt hatten, wurde das Lied durch die Unterschrift von Präsident Herbert Hoover 1931 die offizielle Nationalhymne der USA.

Auch in Deutschland dauerte es. Nach der Reichsgründung wurde zwar häufig Hoffmann von Fallerslebens „Lied der Deutschen“ zu feierlichen Anlässen gesungen – eine offizielle Nationalhymne gab es aber bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 nicht. Erst der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert erklärte im August 1922 das Lied im Alleingang zur Nationalhymne. Das sollte wenige Monate nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau zur Einung der Nation beitragen.

Den Nationalsozialisten gelang es wenig mehr als ein Jahrzehnt später, das Lied in Misskredit zu bringen. Denn auf das Absingen der ersten Strophe folgte während der NS-Zeit in der Regel – und ab 1940 verpflichtend – das Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP. Erst drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik rangen sich Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss dazu durch, das „Lied der Deutschen“, dritte Strophe, wieder zur Nationalhymne zu machen.

Nationalistisch, hölzern, altmodisch?

Vielen ist es bis heute lieb und teuer, nicht zuletzt wegen der nicht pathetischen, sondern fast sanften Melodie Joseph Haydns. Vielen anderen aber missfällt es. Sie halten es wahlweise für nationalistisch oder hölzern oder heillos altmodisch – wer kann heute schon etwas anfangen mit „des Glückes Unterpfand“? Zuletzt hat Bodo Ramelow, stellvertretender Bundestagspräsident, ein neues Scherflein zur Hymnen-Debatte beigetragen. Er möchte das „Lied der Deutschen“ durch Bertolt Brechts „Kinderhymne“ ersetzen. Und er will, dass die Bevölkerung darüber und über die Farben der schwarz-rot-goldenen Landesflagge abstimmt. Die empörten Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte umgehend: „Unsere Flagge und unsere Hymne stehen für unsere Demokratie, unsere Grundrechte und unseren Rechtsstaat. Wer damit fremdelt, hat ein Problem mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes.“

Wenn es nur so einfach, so eindeutig wäre. Wohl ist das „Lied der Deutschen“ heute weithin anerkannt. Dass es aber auf einem langem und holperigem Weg zweimal Nationalhymne wurde, hat Gründe, die in der Geschichte des Landes und der deutschen Mentalität liegen. Als es entstand, war es beides: ein Lied der Freiheit – und ein Lied des Hasses, zumindest des antifranzösischen Ressentiments. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1789 bis 1874) schrieb es 1841 auf der Insel Helgoland, die damals eine britische Kronkolonie war.

Zu dieser Zeit ging ein Sturm nationaler Empörung durch das noch unvereinte Deutschland. Frankreich hatte Anspruch auf alle linksrheinischen Gebiete erhoben, der Rhein sollte von Nord bis Süd die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland werden. In die aufgewühlte Stimmung hinein schrieb Hoffmann von Fallersleben sein Lied. Zwar zog Frankreich seine Ansprüche schnell wieder zurück, die „Rheinkrise“ befeuerte aber weiterhin das deutsche Bestreben nach nationaler Einheit. Das trieb Fallersleben so weit, dass er in der – heute aus dem Verkehr gezogenen ersten der drei Strophen – Deutschland über alles, „über alles in der Welt“, stellte. Und es dazu aufrief, „stets zum Schutz und Trutze“ zusammenzuhalten: brüderliche Einheit, um fremde Mächte besser abwehren zu können.

August Heinrich von Fallersleben kann nicht als Kronzeuge deutscher Demokratie bemüht werden. Aber auch nicht als Kronzeuge gegen die Demokratie und für Fremdenhass. Gerade diese Uneindeutigkeit macht ihn und sein Lied interessant.

„Die gewaltige Zeit verschlingt alles Persönliche“

Seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon war die antifranzösische Haltung ein fester Bestandteil der jungen Bewegung, die für die deutsche Einheit der bisher zersplitterten Nation eintrat. Die Fürsten und Preußen wollten zwar auch Napoleons Besatzungsherrschaft abschütteln, aber nur, um ihre absolutistische Macht wieder herzustellen. Nicht so die bürgerliche Nationalbewegung. Viele, die an ihr teilnahmen, hatten als Bürgerliche von den Reformen profitiert, die Napoleon während der Besatzungszeit verordnete – auch Hoffmann von Fallersleben.

Sie wehrten sich aber zugleich gegen Frankreich als imperiale Macht. Das verhärtete sich schnell zu einem blinden Frankreichhass, mit dem Deutsche auch ihr kulturelles Unterlegenheitsgefühl gegenüber Frankreich zu kompensieren versuchten. Die Liebe zum Vaterland kam dann mitunter sehr einfältig daher. Hoffmann von Fallersleben dichtete: „Deutsch zu sein in jeder Richtung / Fordert jetzt das Vaterland: / Aus dem Leben, aus der Dichtung / Sei das Fremde ganz verbannt.“

Als Preußen dann 1870 Krieg gegen Frankreich führte, schrieb der Autor in einem Brief: „Die gewaltige Zeit verschlingt alles Persönliche, alles, was Liebe und Gemütlichkeit heißt und ist, und lässt uns nur den Hass übrig, den Hass gegen dies verworfene Franzosengeschlecht, diese Scheusale der Menschheit, diese tollen Hunde, diese grande nation de l’infamie et de la bassesse.“ Da redete sich einer für viele in Rage. Wie fast immer, wenn es rassistisch wird, war auch hier der Antisemitismus nicht fern.

Zahlreiche Stellen bei Hoffmann von Fallersleben belegen, dass er voll Ressentiment gegen Juden war. In dem Gedicht „Emancipation“, das ein Jahr vor dem „Lied der Deutschen“ entstand, wirft der den sich emanzipierenden Juden vor, sie würden „uns unser deutsches Vaterland unter unsern Füßen rauben“ – das klingt fast wie ein Präludium auf die heutigen Wahnvorstellungen vom „Bevölkerungsaustausch“. „O Israel“, heißt es in dem Gedicht weiter, du „bist auf Wucher, Lug und Trug bedacht“.

Andererseits: Hoffmann von Fallersleben war kein dumpfer, vor der Obrigkeit kuschender Patriot. Als Germanist erforschte er alte Sprach- und Dichtungstraditionen, mit denen sich die Deutschen ihrer Geschichte und Eigenart vergewissern sollten. Er ist der Autor mehrerer Lieder, die einmal populär waren: „Alle Vögel sind schon da“ oder „Ein Männlein steht im Walde“. Er zog unerschrocken gegen Zensur und die engstirnige Bürokratie der Fürstentümer zu Felde. In einem Gedicht beklagte er die Vergeblichkeit des Kampfes für „Volks- und Menschenrechte“: „Ihr erlangt mit allem Fechten / Weder Schreib- noch Rederecht“.

Die Sammlung, der dieses Gedicht entnommen ist, heißt zwar „Unpolitische Lieder“ (1840), sie war aber eminent politisch. Sie missfiel der preußischen Obrigkeit so sehr, dass Hoffmann von Fallersleben seine Professur in Breslau verlor. Und lange Zeit zu einem risikoreichen und beschwerlichen Wanderleben verurteilt war. Mehrfach wurde er in verschiedenen Hoheitsgebieten inhaftiert oder des Landes verwiesen.

Die Freiheit, die er forderte, hatte ohne Zweifel eine liberale Seite. Und eine nationale: Die Verwirklichung des Traums von Freiheit fiel für ihn fast zusammen mit der deutschen Einheit. Wenn man genau hinhört, hat die dritte Strophe des „Lieds der Deutschen“, die heute als einzige gesungen wird, aber weder einen martialischen noch einen triumphierenden Ton. Niemand wird hier angegriffen, kein Waffenruf erklingt. Die Substantive, die die Strophe enthält, haben durchweg einen positiven, zivilen und auch leisen Klang: Einigkeit, Recht, Freiheit, Herz, Verstand und Glück.

Die Strophe unterscheidet sich darin markant von der französischen Marseillaise, deren Refrain lautet: „Zu den Waffen, Bürger! / Formt Eure Schlachtreihen, / Marschieren wir, marschieren wir! / Bis unreines Blut / unserer Äcker Furchen tränkt.“ Das Deutschland, das in der dritten Strophe des „Lieds der Deutschen“ aufscheint, ist ein friedliebendes und vor allem von Bürgersinn geprägtes Land. Es hat nichts Falsches, dass es die Nationalhymne des demokratischen Deutschlands geworden ist.

„Heidewitzka, Herr Kapitän“

Anfang der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts kam die Frage der Hymne auf. Adenauer erinnerte in einem Brief Heuss an „die Lage, in der bei amtlichen Veranstaltungen unsere ausländischen Vertretungen sich befinden“: Die anderen spielten ihre Hymnen. Er aber bekam bei Staatsbesuchen die Melodie des 1936 entstandene kölschem Karnevalschlagers „Heidewitzka, Herr Kapitän“ zu hören. Der „außenpolitische Realismus“, so Adenauer, zwinge dazu, die Entscheidung nicht länger hinausschieben. Heuss, der Empfänger des Briefes, zögerte zuerst, das „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne zu machen. In vagem Bezug auf die nationalsozialistischen Verheerungen schrieb er, er glaube, „dass der tiefe Einschnitt in unserer Volks- und Staatengeschichte einer neuen Symbolbildung bedürftig sei“.

Heuss gab sogar bei dem Dichter Rudolf Alexander Schröder einen neuen Text in Auftrag. In seiner Antwort schrieb er dann aber, er habe sich hier getäuscht: „Ich habe den Traditionalismus und sein Beharrungsbedürfnis unterschätzt.“ Und so entschied er sich für die dritte Strophe der Nationalhymne der Weimarer Republik. Traditionalismus und Beharrungsvermögen: Man kann darin eine Kapitulation vor der Aufgabe sehen, einen vollkommenen Neuanfang zu wagen. Man kann darin aber auch das Bemühen erkennen, an bessere deutsche Traditionen anzuknüpfen. An Traditionen, die zugleich aber auch die ganze Zwiespältigkeit der deutschen Nationswerdung mit sich herumtragen.

Bodo Ramelow – der Westdeutsche, der im Osten Karriere machte – begründete seinen Wunsch nach einer neuen Nationalhymne mit der Behauptung, dass viele Ostdeutsche „die Nationalhymne aus vielerlei Gründen nicht mitsingen“. Über die Gründe dafür schwieg er. Der deutsch-deutschen Wirklichkeit seit der Gründung von Bundesrepublik und DDR wird seine Vermutung, im Osten fremdele man mit dem „Lied der Deutschen“, wohl nicht gerecht. Wenn zu Zeiten der deutschen Teilung im Fernsehen das Lied erklang, unterschieden sich die Reaktionen und Gefühle der Zuschauer im Osten deutlich von denen im Westen. Während in der Bundesrepublik mit ihrem flachen Staatsprofil und ihrer Orientierung auf Europa hin von Fallerslebens Hymne eher distanziert und wie ein Relikt wahrgenommen wurde, war das im Osten ganz anders.

Die DDR war das deutschere Deutschland. Die Gesellschaft blieb traditioneller und der Wunsch nach Wiedervereinigung, also der nationale Wunsch war groß. Im Westen hörte man der Hymne eher kühlen Herzens zu – im Osten wurde sehr vielen warm ums Herz, wenn sie erklang. Sollte Ramelows Urteil stimmen, dass man im Osten heute mit dem „Lied der Deutschen“ nur noch wenig anfangen könne, dann liegt das vermutlich nicht daran, dass das Lied von einer älteren Sprachtradition geprägt ist. Es liegt wohl eher daran, dass im Osten seit 1989 nach einer kurzen Phase fast altdeutscher Nationaleuphorie der deutsche Staat insgesamt für viele in Misskredit geraten ist: als eine letztlich fremde Westgründung, die dem Osten übergestülpt wurde. So wird heute im Osten vieles verworfen, was zum Kernbestand der Republik gehört. Womöglich auch die Nationalhymne. Fast könnte man sagen: Der untergründige DDR-Nationalismus, der erst nach dem Ende der DDR richtig erblüht ist, bewirkt die Distanz zum nationalen „Lied der Deutschen“.

Mit ihrem Deutschsein über Kreuz

Wäre, wie Ramelow suggeriert, Brechts von Hans Eisler vertonte „Kinderhymne“ eine gute Alternative? Viele kritische Geister hat sie für sich eingenommen. Sie klingt gefällig und ein wenig erhaben zugleich. Im Duktus hebt sie sich wohltuend von dem aufdringlichen Besserwisser-Ton ab, den Brecht sonst oft pflegte: „Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand / Dass ein gutes Deutschland blühe / Wie ein andres gutes Land.“ Da ist so manches versammelt, was den vielen gut gefallen mag, die mit ihrem Deutschsein über Kreuz sind. Es wird ein höchst anspruchsvolles Projekt umrissen, das zugleich ganz federleicht daherkommt. Es ruft zu alten, jedoch zeitgenössisch gewendeten Tugenden auf. Und es preist, ohne viele Aufwand und mit kaum merklichem Pathos, die Freundschaft der Völker. Da liegt Brechts Hymne dann aber doch recht nahe an der offiziellen DDR-Sprachregelung von der Völkerfreundschaft, die in der Propaganda immer etwas künstlich-kindlich Scheinnaives hatte: eine bloße, tönerne Behauptung.

Brechts Hymne ruht nicht in sich. Sie richtet sich unausgesprochen gegen etwas anderes, gegen andere. Gegen das „Lied der Deutschen“ und deren hypertrophen Nationalismus der ersten Strophe. Und noch weniger ausgesprochen richtet sie sich gegen die Bundesrepublik, die angeblich den alten deutschen Nationalismus beerbe. Was sogar wortwörtlich zutrifft: Konrad Adenauer hatte 1950 nach einer Rede im Berliner Titania-Palast die Zuhörer aufgefordert, mit ihm gemeinsam die dritte Strophe des Fallersleben-Liedes zu singen. Noch im gleichen Jahr schrieb Brecht seine Hymne als direkte Antwort darauf. Sie ist in doppelter Weise eine Negation: sowohl der Vorgeschichte der DDR wie der jungen Bundesrepublik. So schön sie klingt, sie ist ein Lied der Abgrenzung.

Auf wie wackeligen Füßen dieser Versuch stand, der gerade entstandenen DDR im Lied höhere Weihen zu verpassen, zeigt ungewollt die holpernde letzte der vier Strophen: „Und weil wir dies Land verbessern / Lieben und beschirmen wir’s / Und das liebste mag’s uns scheinen / so wie andern Völkern ihrs.“ Mühsam, aber vergeblich wird hier am Mythos vom besseren Deutschland geschraubt. Würde das zur neuen Nationalhymne, erlebte die vor dreieinhalb Jahrzehnten zurecht untergegangene DDR eine Wiederauferstehung. Diesmal als kulturelle und daher umso wirkmächtigere Fiktion.

Da ist das Festhalten an Hoffmann von Fallerslebens Lied die ehrlichere Wahl. Aber, wie gesagt: Es geht auch ohne Hymne.

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