Kürzlich hat „Kafkas Kochbuch“ den Buchmarkt beglückt, eine wieder entdeckte Rezeptsammlung für Reformkost, die der Schriftsteller 1903 bei einem Kuraufenthalt in Dresden gereicht bekam, wie jeder Gast im Sanatorium und zur Anwendung zu Hause. Kafka war unter anderem für das „Fletschern“ (jeden Bissen 40-mal kauen) bekannt.
Dass Ernährung zur Heilslehre werden kann und Schriftsteller ihr bevorzugt verfallen, mag uns so vorkommen, weil sie darüber schreiben. Die Tradition reicht von Hermann Hesses „Monte Verità“-Diät (in seiner Erzählung „In den Felsen“) bis zu Jonathan Safran Foer („Tiere essen“) oder Karen Duve („Anständig essen“). Insofern verwundert es kaum, wenn die Berliner Schriftstellerin Kenah Cusanit in der neuen Flugschriften-Reihe „Naturkunden-Essays“ im Verlag Matthes & Seitz über Getreidesorten schreibt. Über Dinkel, der mit Weizen gepanscht wird. Und darüber, was Glyphosat im Darm anstellt.
Dass Cusanits Text mit dem Deutschen Preis für Nature Writing 2024 ausgezeichnet wurde, zeigt, dass das Genre die Idee, Leute durch dichte Beschreibung für die Natur zu begeistern, längst hinter sich gelassen hat. Fast schon in „Foodwatch“-Manier wühlt sich Cusanit durch Dinkel-Gutachten des Bundesamts für Risikobewertung, alte Weizensorten in italienischen Bio-Supermärkten und Saatgutdatenbanken. Alles sicher Ausdruck davon, wie komplex und entfremdet der Umgang der Menschheit mit Agrarthemen ist. Doch Nicht-Ökotrophologen werden damit eher wenig anzufangen wissen.
Nun ist Matthes & Seitz zweifellos zu einem der führenden Programmverlage der Gegenwart avanciert, gerade auch im Bereich Sachbuch und Essayistik, mit Schriften von Panajotis Kondylis („Konservatismus“) bis zu Susanne Stephans Literaturgeschichte der Energiequellen („Der Held und seine Heizung“). Ein eigenes Universum bildet die von Judith Schalansky kuratierte „Naturkunden“-Reihe, die inzwischen Nachahmer in vielen Verlagen gefunden hat. Dass ihr Programm neben Tieren und Pflanzen sogar Landschaftsformen wie den Karst porträtiert, war eine konsequente Weiterentwicklung.
Auf einem aktuellen Flyer teilt die Herausgeberin Schalansky der geneigten Leserschaft mit, dass man sich nun auch dem Aktivismus geöffnet habe. „Wir glauben, dass es jetzt an der Zeit ist, agiler zu werden, deutlicher, ja, aufrührerisch: mit einer neuen Reihe kürzerer Texte“. Die mit vier Bändchen gestartete Reihe „Naturkunden-Essays“ erinnert in Farbigkeit und Format an Reclam-Hefte, kultiviert allerdings eine subversive Stempelschrift auf den Umschlägen.
Mirjam Herrmann über „Protest“
Autorin der reclamgelben Programmschrift mit dem Titel „Protest“ ist die „Klimakleberin“ Mirjam Herrmann. In ihrem Text lässt sie sich darüber aus, was ziviler Ungehorsam ist und warum sie sich „dazu entschieden habe – und immer wieder entscheide –, im Widerstand gegen unser System zu sein“. Herrmann berichtet, wie sie eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßte, mit welchen NGOs sie sich vernetzt hat und wie sie den Anschlag auf das Monet-Gemälde im Museum Barberini in Potsdam zu Hause einübte: „Am 23. Oktober 2022 stand ich in meinem Badezimmer und warf etwas ‚Fertigtütenkartoffelbrei‘ an die Fliesenwand. Die Konsistenz war perfekt. Ich musste lachen. Etwas Kartoffelbrei in einer Brotbüchse mit einem Schal um den Bauch geschnallt, betrat ich später das Museum Barberini in Potsdam.“
Nun haben Systemgegner – ein Begriff, den sie selbst oft wie eine Monstranz vor sich hertragen – ihren Lebensstil seit jeher publizistisch zu promoten gewusst. Dass Verlage dem ein ideelles Forum geben, ist ein normaler Vorgang, der Nicht-Aktivisten vor allem Einblicke in die geistige Nahrung von Subkulturen und ideologische Radikalisierung ermöglicht. Erschreckend ist die Verabsolutierung der eigenen Mission: „In Zeiten der Klimakrise ist mir klar geworden, dass der Staat, in dem ich lebe, den Gesellschaftsvertrag nicht mehr einhält. Der Deal ist schließlich folgender: Ich halte mich an die Regeln des Staates, der mir dafür Schutz und Sicherheit gibt. Aber Deutschland hält seine Verpflichtung aus Art. 20a GG und dem Pariser Klimaschutzabkommen nicht ein. Um diesen Schutz für mich und alle Menschen einzufordern, habe ich mich in Konflikt mit dem Staat begeben.“
Ihre „Anwält*innen“ hätten ihr abgeraten, Details aus ihrem Aktivismus in Essayform zu teilen, schreibt Herrmann und erklärt: „Ich schreibe diesen Text, weil ich … im Teilen meiner Erkenntnisse auch einen Teil meines Widerstandes sehe“.
Das Ganze wirkt umso mehr aus der Zeit gefallen, als die gesellschaftliche Mehrheit diese Form von Klima-Radikalismus schon lange nicht mehr goutiert, im Grunde nie goutiert hat. Die jüngsten Anschläge auf die Infrastruktur in Deutschland, etwa auf die Bahntrasse im Rheinland oder die Stromversorgung in Berlin, haben nur ein weiteres Mal gezeigt, wie Radikale der Gesellschaft mutwillig schaden.
Wohin der Konflikt selbst ernannter Weltretter im Konflikt mit der für ihre Anliegen tauben Gesellschaft im Worst Case führen kann, zeigt ein anderer Essay in der Schriftenreihe. Die „Dunkle Ökologie“ des britischen Umweltaktivisten Paul Kingsnorth (im englischen Original als „Dark Ecology“ bereits 2017 erschienen) erinnert an den „Unabomber“ Ted Kaczysnki, der als Terrorist mit einer Anschlagserie aus Paketbomben drei Menschen tötete und 23 verletzte. Kaczynski war sich seiner Abscheu gegen die Technologien der Gegenwart sicher. Hochschulen und Flugzeuge als Ausweis dieser Technologiefixierung wurden sein Terrorziel.
Wer etwas gegen die technologische Gegenwart unternehmen wolle, solle doch besser zur Sense greifen, meint Kingsnorth und schreibt ausführlich über dieses uralte Landwirtschaftsgerät, das viele nur noch aus Heimatfilmen oder Gehöften ihrer Großeltern kennen. Kingsnorth gibt jeden Sommer Sensenkurse im Norden Englands und in Schottland, das heißt, er bringt Menschen das Benutzen eines Mähwerkzeugs bei, das wieder in ist, weil es Handarbeit und erdnahe Esoterik aufs Feinste vermählt: „Eine Sense korrekt zu benutzen, ist eine Meditation. Der Körper befindet sich im Einklang mit dem Werkzeug, das Werkzeug im Einklang mit dem Land.“
An anderer Stelle spricht Kingsnorth von einer „Rückbesinnung auf eine niedrigere Ebene zivilisatorischer Komplexität“. Er plädiert für eine Abkehr vom magischen Glauben an technogrüne Lösungen. Eine Absage erteilt er dem Klima-Aktivismus, der immer schon Bescheid weiß, was Kollektive zu tun und zu lassen hätten: „Jede wirkliche Veränderung beginnt mit einem Rückzug“, schreibt Kingsnorth und predigt die eremitische Rousseau-Tradition. Achtsamkeit und Naturverbundenheit habe ein Landwirt, der wissen musste, wann er das Heu einholen musste, von ganz allein gelebt, er brauchte keine Regen-App, die ihn mit über Daten mit der Natur verband, sondern verließ sich allein auf Erfahrung und Anschauung.
Man muss kein Prophet sein, um den Bewegungen einer neuen Natur-Achtsamkeit eine große Zukunft in der Nische zu bescheinigen. So wie am Ende des 19. Jahrhunderts, als es mit der Industrialisierung und Verschmutzung der Städte zu heftig wurde, die Lebensreform-Bewegung aufkam, so könnte jetzt eine neue Lebensreform-Bewegung den bewussten Verzicht auf Big Tech und KI predigen. Naturkunden-Essays, die von solchen – wie auch immer inkonsistenten – Aussteigerträumen und alternativen Lebensmodellen erzählen, dürften ihr Publikum finden.
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