Zeruya Shalev, 1959 im Kibbuz Kinneret am See Genezareth geboren, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Israels, ihre Bücher sind Weltbestseller. Auf Deutsch erschien zuletzt der Roman „Nicht ich“ (Berlin Verlag). Ein Gespräch über die Seele Israels und das Trauma ihrer Nation.

WELT: Wie fühlt es sich an, heutzutage Israeli zu sein?

Zeruya Shalev: Israeli zu sein war noch nie einfach, aber in diesen Tagen ist es schrecklich schwer. Israeli zu sein bedeutet, von allen Seiten bedroht zu sein. Auf uns werden von überall Raketen gefeuert – aus dem Iran, aus dem Jemen, von der Hisbollah – es waren wirklich sehr, sehr schwere Jahre. Meine größte Angst ist nun die Katastrophe, in die uns der Premierminister führen könnte. Zunächst einmal wegen der Gräuel in Gaza, die in unserem Namen verübt werden. Ganz zu schweigen vom Verlust der Demokratie.

WELT: Wie sehen Sie die Reaktionen im Westen auf die Politik Israels?

Shalev: Ich denke, wir müssen zwischen der Kritik im Ausland an den Vorgängen in Gaza und der Unterstützung für uns, das liberale Publikum, das auf die Straßen geht und der Regierung völlig entgegentritt, unterscheiden. In diesem Sinne würde ich mir wünschen, dass wir mehr Anerkennung bekommen und dass im Westen verstanden wird, dass nicht alle von uns gut finden, was unsere Regierung tut. Ich hoffe, dass, wenn das etwas klarer wird, auch der Protest in Europa differenzierter wird.

WELT: Im Moment sieht es nicht danach aus, als würden viele differenzieren.

Shalev: Ich würde die Europäer bitten, sich der Komplexität bewusst zu sein, in der wir hier leben. Seit so vielen Jahren kämpfen wir um unser Überleben. Natürlich wurden Fehler gemacht, und natürlich hätte man vieles anders machen können. Aber wir versuchen, an unserem Zuhause festzuhalten – weil wir kein anderes haben. Und ja, man kann über eine Aufteilung des Landes sprechen. Ich befürworte das durchaus, wenn es Sicherheitsgarantien gibt. Aber ich würde mir wünschen, dass man der liberalen Öffentlichkeit in Israel mehr Vertrauen schenkt – die gegen den Krieg kämpft, gegen die Regierung, gegen den Rassismus und den religiösen Fanatismus, die hier um sich greifen. Ja, ich würde mir mehr Verständnis und Unterstützung wünschen.

WELT: Israel sollte ein sicherer Ort für Juden sein. Ist es immer noch dieses Zuhause für Juden?

Shalev: Sehen Sie, das ist wirklich ein großer Teil des Traumas, das wir am 7. Oktober erlebt haben. Denn dieser Staat wurde gegründet, um ein sicherer Ort für Juden zu sein. Und am 7. Oktober haben wir gespürt, was es bedeutet, wenn es keinen Staat und keine Armee gibt, die uns schützen. Wir wurden von einem barbarischen, schrecklichen Angriff getroffen, der uns an die Schrecken der Schoah, an Pogrome erinnerte, von denen ich von meinem Großvater gehört hatte. Dieses Gefühl wurde am 7. Oktober zutiefst erschüttert und natürlich durch alles, was danach kam – was meiner Meinung nach sehr stark mit dem Verhalten der Regierung, des Premierministers, zusammenhängt.

Wäre es nur die Katastrophe und das Trauma des 7. Oktober gewesen, hätten wir uns vielleicht erholen können. Es gibt hier viele aufrechte Kräfte und wunderbare Menschen. Aber alles, was danach kam – der unnötige Fortgang des Krieges, das Schicksal der Geiseln – hat dieses Trauma verlängert und auch das Gefühl der Unsicherheit dauerhaft gemacht.

WELT: Sie sind aus Jerusalem nach Haifa gezogen. Warum?

Shalev: Ich wollte die Möglichkeit haben, in einer gemischten Stadt zu leben, in der Juden und Araber in denselben Institutionen, Universitäten und Krankenhäusern arbeiten. Ich spüre hier keinen Unterschied zwischen Juden und Arabern, auch wenn es unter der Oberfläche schwieriger sein mag. Aber ich habe hier arabische Freunde. Ich bemühe mich, Beziehungen zu ihnen zu knüpfen, und ich habe das Gefühl, dass man mich hier wirklich als Mensch sieht.

WELT: Sind Sie nur die Schriftstellerin oder haben Sie auch eine politische Botschaft?

Shalev: In den letzten Jahren schreibe ich mehr Artikel in Zeitungen in Frankreich und Europa über die Lage hier. Auch politische Positionen. Also bin ich nicht mehr nur in der literarischen Welt zu Hause, sondern auch ein wenig in der politischen. Wenn ich in Deutschland bei Lesungen bin, wenn ich Publikum treffe, dann stellen sie Fragen und wollen Dinge wissen. Aber bisher habe ich dort vor allem Solidarität gespürt.

WELT: Solidarität?

Shalev: Ja, ich war bei einer Lesereise in Deutschland. Normalerweise warten die Leute nach der Lesung, um ihre Bücher signieren zu lassen. Dann tauscht man ein, zwei Worte. Nach dem 7. Oktober gab es viele Worte der Unterstützung und Solidarität. Auch beim letzten Mal, als der Krieg in Gaza sich schon unnötig in die Länge zog, habe ich Unterstützung gespürt – vielleicht auch, weil ich eine engere Beziehung zu meinen Lesern aufgebaut habe.

WELT: Haben Sie keine Angst, wieder nach Deutschland zu kommen, wenn Sie die Demonstrationen dort sehen?

Shalev (lacht): Nein, wissen Sie, ich bin Israelin, ich habe nicht so schnell Angst. Ich habe mir mit den Jahren eine gewisse Robustheit angeeignet. Ich plane, Anfang November nach Berlin zu kommen und Ende November wieder für eine kleine Lesereise – in Berlin, München, Hamburg und Stuttgart.

WELT: Jedes Mal, wenn ich in Israel war, hatte ich das Gefühl, dass dieser Ort eine besondere Seele hat – eine Art Zauber. Etwas Einzigartiges. Hat sich diese Seele in den letzten Jahren verändert?

Shalev: Ja. Die israelische Seele hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert. Es ist eine Seele, die sich in einem Zustand dauerhafter Traumatisierung befindet. In einer Trauer, für die sie sich nicht einmal richtig Zeit nehmen kann, weil sie ständig weiterkämpfen muss. Es ist eine Seele, die missbraucht wurde – und zwar auf die schlimmste Weise, die es gibt: ähnlich wie Missbrauch innerhalb einer Familie. Der Herrscher, der Premierminister, ist in gewisser Weise wie ein Vater, der Verantwortung für alle Bürger tragen sollte. Wenn dieser „Vater“ aber seine Pflicht verrät und anfängt, seine „Kinder“, die Bürger, zu missbrauchen, dann entsteht eine tiefe seelische Verzerrung. Denn die Person, der du am meisten vertraut hast, ist genau diejenige, die dich nun im Stich lässt und dich misshandelt. In diesem Sinne denke ich, dass wir uns immer noch mitten in einem sadistischen Missbrauch befinden.

WELT: Gibt es einen Ort in Haifa, an den Sie gehen, um Ihrer Seele Ruhe zugeben?

Shalev: Ich möchte die Dichterin Dalia Ravikovitch zitieren, die schrieb: „Die wirklich schönen Dinge geschehen nicht draußen, sondern zu Hause, wenn alle Fensterläden geschlossen sind.“ In den letzten Jahren bin ich am liebsten in meinem Arbeitszimmer. Dort bin ich am ruhigsten, dort fühle ich mich am richtigen Ort. Manchmal gehe ich in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Aber weißt du was? Jetzt denke ich, dass der Ort, an dem ich am meisten Ruhe finde – neben der Arbeit – die Demonstrationen sind. Jeden Samstagabend gehe ich hier auf den Platz in der Stadt. Manchmal demonstriere ich auch in Tel Aviv oder Jerusalem. Das sind die Momente, in denen ich Ruhe und Hoffnung spüre.

WELT: Was denken Sie, wenn Sie sehen, dass Israel im Gaza-Streifen eine neue Offensive startet?

Shalev: Als ich die israelischen Panzer in Gaza sah, war das für mich niederschmetternd. Ich hatte so sehr gehofft, dass die Verhandlungen diesmal erfolgreich sein und diesen schrecklichen Krieg beenden würden. Wie so viele Israelis. Meine Augen füllten sich mit Tränen, wie die so vieler Israelis, aber weinen hilft uns nicht weiter, und so sind wir wieder auf die Straße gegangen, um gegen den Krieg zu protestieren. Ich muss hinzufügen, dass in erster Linie die Hamas dafür verantwortlich ist, die Geiseln freizulassen und den Krieg zu verhindern, zum Wohle der Menschen in Gaza, aber ich habe keine Erwartungen an die Hamas. Früher hatte ich Erwartungen an die israelische Regierung, aber nach diesen schrecklichen Jahren habe ich sie völlig verloren. Erst wenn sie ersetzt wird, werden wir unsere Zukunft zurückbekommen. Aber manchmal befürchte ich, dass es dafür schon zu spät ist.

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