Keine Porträts. Keine Historienbilder. Kein Reiter mit Degen. Kein Würdenträger aus den gehobenen Ständen. Weder Schlachten noch befriedete Landschaft. Nie findet bei Georges de La Tour irgendetwas im Freien statt. Kein Fitzelchen Natur. Alles, fast alles spielt drinnen. Und wenn der Täufer-Johannes in Meditation versunken ist, dann sitzt er draußen, weil er halt draußen lebt, aber die Wüste um ihn herum ist zu grauschwarzer Nacht geworden, in der seine nackte Arme wie Leuchtstoffröhren strahlen. Dass einmal die Sonne aufgehen würde, das kommt in diesem Werk nicht vor.
Georges de La Tour: Da führt er hin – in Kammern und Keller. Und da es keine Fenster gibt und keine elektrische Beleuchtung, werden gerne Kerzen angezündet. Weshalb der Maler seinen demütigen Marien und reuigen Magdalenen und andächtigen Christenmännern mit Vorliebe die rote Robe anlegt. Denn Rot kommt gut im Kerzenschein. Das Rot ist in diesem Werk wie glimmendes Feuer. Von Bild zu Bild facht es der Maler neu an.
Er war ein Star zu Lebzeiten. Dann geriet sein Werk in Vergessenheit. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Barockmaler wieder entdeckt worden. Sein schmales Werk, wie es jetzt in einer umfassenden Ausstellung des Pariser Musée Jacquemart André zu sehen ist, hüllt ein Zauber ganz eigener Art. Kellerdunkel, Kerzenschein, Kammerton. Menschen, versunken in ihren Gedanken. Menschen in wortlosen Gesprächen miteinander begriffen. Wie der elende Hiob und seine ratlose Frau. Den Namen kennt auch der Bibelferne. Soll alles göttliche Prüfung gewesen sein.
Aber wie das Schicksal mit dem Glaubensfesten spielt, das war schon immer ohne Moral. Jetzt kauert der alte Mann in der dunklen Ecke, nackt, Zauselbart, Hände gefaltet, Mund offen, ganz unverschuldetes Elend. Und seine Frau steht vor ihm, leuchtend rotes Kleid, leuchtet ihn mit der Kerze an, hat eine Perle am Ohr, beugt sich über ihn, sieht ihm in die blinden Augen, denkt und sagt es nicht: Liebster, war es das wert? Was hat dein Gott aus dir gemacht, was hast du mit dir machen lassen?
Das hat nur einer so gemalt. Vierhundert Jahre ist es her. Vielleicht nicht ganz vierhundert Jahre. Man weiß es nicht so genau. Man weiß überhaupt nicht viel vom Maler, der ein Spezialist gewesen ist für schrumpelige alte Männer mit Bart und Frauen in roten Kleidern und Geschichten ohne Moral, ein Spezialist für Menschen, die ganz innig miteinander zu tun haben und ganz viel sagen wollen und kein Wort herausbringen. Das ist von großem Zauber, wie viel Sprache in den sprachlosen Bildern versteckt ist.
1593, man kennt das Geburtsjahr des Malers, weiß auch, dass er 1652 gestorben ist, aber sonst nicht viel gewiss. Es gibt Hinweise, dass er aus Lothringen stammte, aus dem Kleinstädtchen Vic-sur-Seille, das damals nicht zu Frankreich, sondern zu Habsburg gehörte. Man hat kaum Dokumente, hält sich an ein paar Überlieferungen, die den Maler als wenig gewinnende Persönlichkeit beschreiben.
Reich, geizig, und ähnlich wie sein italienischer Kollege Caravaggio, mit dem ihn auch künstlerisch Manches verbindet, in allerhand Raufhändel verstrickt. Aber auch das ist nicht gerade das, was die Historiker zu den unzweifelhaften Tatsachen rechnen. Jedenfalls muss der Sohn eines Bäckermeisters, als „Peintre ordinaire du Roy“ am Hof Ludwig XIII., umschwärmt von adligen Bildbestellern, ein anständiges Vermögen verdient haben.
Seine Bilder sind Geheimnis genug
Dass die Erinnerung an ihn verblassen konnte, lag wohl nicht zuletzt am Schicksal seiner Heimat Lothringen, die im Dreißigjährigen Krieg völlig zerstört worden ist. Ein Star zu Lebzeiten war dieser Georges wohl schon. Dass er am Hof seines lothringischen Landesherrn Karl IV. die gleiche Gunst genoss wie beim aus regionaler Sicht feindlichen französischen König, zeigt nur seine Unabhängigkeit.
Umso befremdlicher die magere Überlieferung. Unserer Zeit, die die schillernde Künstlerperformance braucht, um an der Kunst Gefallen zu finden, fast unverständlich. Und doch kann man es ganz gut aushalten, dass der Maler sein Lebensgeheimnis ins Geschichtsgrab mitgenommen hat. Seine Bilder sind Geheimnis genug.
Immer geht in den Köpfen etwas vor, was die Personen zu undurchschaubaren Individuen macht. Und man ahnt, wenn sie zusammen sind, was sie voneinander denken, voneinander halten. Aber es wird eben nicht ausgesprochen, nicht gezeigt. Selbst ein standardisiertes Ensemble wie Maria mit dem neugeborenen Jesuskind verwandelt der Maler in ein Kammerstück von berückender Intimität, übersetzt den frommen Text in eine wunderbare Alltagssprache.
Alle heiligen Attribute fehlen. Maria ist Mutter, aber keine Gottesmutter, und was sie in den Armen hält, ist ein schlafendes Wickelkind, das so fest bandagiert ist, dass es gar keine Möglichkeiten hätte, seinen frühkindlichen Segen zu verteilen. Und die Frau, die mit der Kerze in der einen Hand und der anderen Hand als Lampenschirm das Kind anstrahlt, nimmt einfach am Glück teil und hat sonst nichts zu tun.
Es ist, als habe der Maler die weihnachtliche Bildformel geliehen, um sich gleich wieder von ihr zu befreien und etwas ganz anderes zu erzählen. Nur was? So ganz genau kann man es nie sagen. Irgendwie verfällt man rasch selbst in jene Sprachlosigkeit, die auf diesen Bildern herrscht.
Woher er das hat? Wo er das gelernt hat? Es ist nicht erwiesen, ob Georges de La Tour jemals in Rom war. Wirklich belastbare Dokumente haben sich nicht erhalten. Eine Zeit lang hat man es sich gar nicht anders vorstellen können. Niemand wurde zu jener Zeit Hofmaler, wenn er nicht sein obligates Italien-Semester vorweisen konnte.
Und überhaupt: Woher sollte der Lothringer sein Faible für die flackernde Beleuchtungsmagie haben, wenn er solche Effekte nicht bei italienischen Meistern wie Guido Reni oder Carlo Saraceni gelernt hat, die um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert aus Caravaggios Hell-Dunkel-Theatralik populäre Barockformeln gemacht haben?
Belegen lässt sich nichts
Heute neigen die Kunstwissenschaftler eher zur Skepsis. Der eine glaubt an Rom, der andere nicht. Und mehr ist nicht zu sagen. Aber so viel lässt sich schon sagen, dass dieses Werk aufs bruchstückhafte Ganze gesehen doch weit vom Standard der italienischen, niederländischen oder spanischen Malerei seiner Zeit entfernt scheint.
Schon wahr, dass der Lothringer in seinem zuweilen derben Ton, in der Vorliebe für blinde Drehorgelspieler, zerlumpte Straßenkapellen und Bauersleute das bürgerliche Genre bedient, wie es in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts in Mode kam. Dass der große Velazquez Leute aus dem Prekariat geradeso bildwürdig auftreten ließ wie die Adelsgesellschaft, das wird sicherlich auch nicht ohne Eindruck auf den Maler im lothringischen Lunéville geblieben sein. Und dass er in der Art, wie er mit Jakobus, Andreas, Philippus, Thomas, Judas Thaddäus die Apostel als markige, leicht vierschrötige Männer vom Land gibt, dem italienischen Barock-Ideal entspricht, das ist ebenso offensichtlich – auch wenn er nie in Rom gewesen sein sollte.
Und doch ist alles bei ihm ein bisschen anders. Inwendiger, abgründiger, so gar nicht getröstet durch gelehrte Unterhaltung. All das kommt nicht vor im Werk, die praktische Nutzanwendung, die handliche Moritat, die erhabene Inszenierung, das Schäferspiel, das erotische Abenteuer. Nicht einmal ein anständiges Drama.
Jahrhundertelang stand der heilige Sebastian mit seinem schönen Leib draußen auf dem Galgenberg am Marterbaum und ließ sich verklärt gefallen, wie sie die Pfeile auf ihn schießen. Bei Georges de La Tour haben die Freundinnen den Ohnmächtigen in ihr Haus gebracht und drehen ihm mit Hingabe die Geschosse aus dem Leib. Das ist eine ganz andere Geschichte.
Auch wenn das berühmte Bild aus der Berliner Gemäldegalerie jetzt nicht in Paris zu sehen ist, dann hat die Geschichte, die da gezeigt wird, nichts mehr mit der Heroen-Botschaft der Heiligen-Legende zu tun. Es ist Georges de La Tours Geschichte. Sie spielt wie alle seine Geschichten drinnen, im Seeleninnern, im Herzdunkel.
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