Früher war Politik überschaubar. Links: die Internationale. Rechts: Marschmusik. In der Mitte: Leute, die beim Zahnarzt im „Focus“ blättern. Heute reicht eine Patronenhülse, in die „Bella Ciao“ graviert ist, so wie im Falle des Attentäters von Charlie Kirk, und schon starren alle auf eine Matroschka aus Ideologie – immer steckt noch eine weitere drin. Was will uns der Titel des italienischen Partisanenliedes sagen? Steht er da als antifaschistische Hymne, als Netflix-Soundtrack, als diebisches Vergnügen einer rechten Playlist? Oder einfach als alles gleichzeitig – Achtung, politischer Privatverkauf, alle Angaben ohne Gewehr, äh, Gewähr?
Eindeutigkeit ist was für Boomer. Nur Karen spricht noch Klartext. In digitalen Subkulturen sagt man nicht mehr, was man meint; man zitiert, ironisiert, codiert. Der Attentäter Tyler Robinson hat das nicht nur begriffen, er lebt es so automatisch wie seine Waffe. Als Munition dient eine Collage aus Memes. „Helldivers“-Cheatcode hier, Furry-Emoji da. Gewalt gerinnt zum Mash-up.
Wer soll das Kauderwelsch der Zeichen deuten? Ermittler? Die sehen reflexhaft Kryptoterror. Gamer? Die schmunzeln über Airstrikes, die garantiert die eigenen Leute treffen. Meine Oma hält „Helldiver“ bestenfalls für ein neues Gartengerät von Parkside, 39,90 Euro bei Lidl. Tyler Robinson lacht sich eins über seinem Gewehrlauf, und alle gucken in die Röhre.
Man tut dem 22-Jährigen wohl nicht Unrecht, wenn man ihn als ironischen Influencer versteht. Mord ist bloß Mittel zum Zweck. Stunden nach der Tat witzelte er im heißgeliebten Discord-Channel über Fahndungsfotos und spielte mit Identitäten wie andere mit Profilbildern. Zwei Stunden vor der Festnahme dann das lapidare Geständnis: „Hey Leute, ich habe schlechte Nachrichten … es tut mir leid.“ Keine Erklärung, kein Manifest, nur ein Abschied im Tonfall einer WhatsApp-Gruppe.
Eine Fährte aus Codes
Sein Opfer Charlie Kirk, der rechte Aktivist, hatte die Meme-Logik selbst perfektioniert. Seine Campus-Touren waren Castingshows fürs Netz: Studenten sollten ihn herausfordern, er blieb cool, sie wurden wütend. Das Material wanderte direkt in die Content-Maschine: Politik als TikTok, Streit als Clickbait. Nach der Tat hieß es: linker Täter! Dann: rechter Täter! Dann: ein „Groyper“, also ein Anhänger einer rechtsextremen Troll-Sekte, die Kirk seit Jahren piesackte. Schließlich lautete der Befund auf nihilistische Akzelerationisten, die die Welt brennen sehen wollen. Und auch die Nummer mit der Rache für seinen trans Mitbewohner ist nur ein weiterer Verdacht, das nächste quengelige Softwareupdate der Interpretation.
Statt einer kohärenten Ideologie verbreitet der Täter Chaos. Er hinterlässt eine Fährte aus Codes wie Brotkrumen, die Medien hetzen hinterher. Der Sieg liegt nicht im Statement, sondern in der Reichweite und im Sich-Beömmeln in Erwartung der verwirrten Fragen. „War nur ein Witz“ ist die ultimative Immunisierung der Generation „terminally online“, die aus dem Gamerstuhl nur aufsteht, um dem Pizzaboten die Tür aufzumachen. Kein Manifest schützt so zuverlässig wie das Zwinkern. Ein Furry-Emoji auf einer Patrone? Irre, wenn das auf Fox News kommt!
Jede Kritik läuft ins Leere angesichts des unendlichen Spaßes, der genauso traurig ist, wie David Foster Wallace ihn einst beschrieben hat. Die letzten Bewohner der analogen Welt sind mit Blindheit geschlagen. Vor unseren Augen flimmert die Ambivalenz. Politik ist nicht länger Streit um Überzeugungen, so viel hat auch der regelmäßige „Tagesschau“-Gucker mitbekommen, sondern, zumindest in ihrer zeitgemäßesten Form, eine Endlosschleife aus Pose und Parodie. Wir, die wir interpretieren und kommentieren, sind in die Inszenierung von vornherein eingerechnet. In diesem Sinne ist Charlie Kirk zwar in Wirklichkeit erschossen worden, gemeint war das Attentat aber als Meme unter toxischen Trolls.
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