Eine Gruppe Freunde sitzt abends bei einer Flasche Wein zusammen und spielt ein Spiel: Wer kann die deprimierendste Geschichte aus seinem Leben erzählen? Marie (Svenja Jung) beichtet, dass sie immer Künstlerin werden wollte und es doch nur bis zur Lehrerin gebracht hat. So geht das reihum, bis Maries Partner dran ist. Er sei sexsüchtig, gesteht Luis (Noah Saavedra). Seine Freunde lachen, nehmen ihn nicht ernst. Das sei doch etwas Gutes, kein Makel, meinen sie. 

Obwohl die WHO Sexsucht seit 2019 als Krankheit anerkennt, sind ihre Symptome und Auswirkungen immer noch kaum geläufig. Das wollte die Drehbuchautorin Silke Eggert ändern, die auf eigene Erfahrungen aus einer Beziehung mit einem Sexsüchtigen zurückblickt und gemeinsam mit Sebastian Ladwig das Drehbuch der sechsteiligen ARD/WDR-Mini-Serie „naked“ verfasste. Nicht nur ist es die erste deutsche Serie, die sich des tabuisierten Themas annimmt – sie rückt auch, anders als etwa Lars von Triers „Nymphomaniac“ oder Steve McQueens „Shame“, die Perspektive der Angehörigen ins Zentrum.

Denn die Protagonistin ist Marie, die sich in Luis verliebt, ja ebenso süchtig nach ihm ist wie er nach Sex. Was als leidenschaftlicher One-Night-Stand beginnt, wird bald zur ernsten Beziehung mit Zusammenziehen, Wochenendtrip und Kindkennenlernen, und mündet schließlich in einen gefährlichen Strudel aus Grenzverletzungen, Selbstaufgabe und Co-Abhängigkeit. 

Der Regisseurin Bettina Oberli, die bereits mit der klugen MeToo-Serie „37 Sekunden“ die Graubereiche des Konsenses auslotete, gelingt abermals ein fesselndes Psychodrama, das keine einfachen Schuldzuweisungen vornimmt. Denn Marie ist ebenso wenig Opfer wie Luis Täter. Vielmehr kämpfen beide gemeinsam gegen eine Krankheit, die sie nie wirklich zu fassen bekommen. Um ihrer Beziehung eine Chance zu geben, und dann eine zweite, eine dritte und eine vierte, begeben sich die Frischverliebten in Paartherapie, gehen zu Treffen der anonymen Sexaholiker, versuchen sich abwechselnd in Phasen der sexuellen „Nüchternheit“, radikalen Ehrlichkeit sowie gemeinsamen Swinger-Club-Besuchen.

Die Serie, die die passende Genre-Selbstbezeichnung „Love Noir“ trägt, fragt: Wie viele „Red Flags“ (Warnsignale) kann man ignorieren, ohne sich dabei selbst zu verlieren? Was muss man für die wahre Liebe zu opfern bereit sein? Und wie lebt man abstinent in einer Welt, in der an jeder Ecke neue Verlockungen lauern – Unterwäschewerbung auf Litfaßsäulen, flirtende Kolleginnen, Donuts mit Löchern?

36 Sexszenen: Jede davon folgt einer eigenen inneren Dramaturgie, ist präzise choreografiert. Das Spektrum reicht von animalisch, rau und wild über sehnsüchtig, romantisch und leidenschaftlich bis hin zu anonym und kalt. Guter Sex, seufzt diese Serie, ist oft eine Gratwanderung. Ihn gibt es nicht ohne Transgression, und genau darin besteht das Dilemma: Als Marie ihrer besten Freundin Lilith (Malaya Stern Takeda) erzählt, dass Luis Sex mit ihr hatte, während sie schlief, reagiert Lilith verstört – Marie hingegen zuckt nur mit den Schultern: Aber wenn es ihr doch gefallen hat? Die Gruppenorgien im Swingerclub wirken harmlos im Vergleich zu der Szene, in der Marie vor Luis’ Augen Intimitäten mit dessen Arbeitskollegen austauscht, oder Luis Marie verführt, als diese gerade auf der Toilette sitzt. 

Surreale Momente, in denen Wirklichkeit und Wahn zu einem albtraumhaften Geflecht verschwimmen, verstärkt Kameramann Julian Krubasik, indem er die Gesichter immer wieder durch Nahaufnahmen ins Extrem vergrößert. Die äußere Welt, zeigt sich hier, kommt den Figuren immer mehr abhanden.

Die wahre Provokation

Svenja Jung, die momentan auch mit anderen Erotikthrillern wie dem Netflix-Hit „Fall For Me“ auf Erfolgskurs segelt, stattet ihre Marie, die einen Alltag als Partnerin, Mutter, Tochter, Freundin und Lehrerin zu balancieren hat, mit einer anfangs herrlichen Durchschnittlichkeit aus, um sie dann zunehmend mit einer aufrüttelnden Intensität in dunkle Abgründe driften zu lassen.

Mit der Frage, welche Form von Sex normal ist, beschäftigte sich Jung bereits in ihrem Kinodebüt „Fucking Berlin“ von 2016, in dem die heute 32-Jährige eine junge Prostituierte spielte – und dabei dem einen oder anderen Sexsüchtigen begegnet sein dürfte. Ein zusätzlicher Aspekt dieser filmischen Studie über eine unterrepräsentierte Krankheit ist, dass sie viele Helden der Literatur- und Filmgeschichte in neuem Licht erscheinen lässt. 

Nicht zuletzt ist „naked“ auch eine Absage an die immer häufiger geäußerte Hoffnung, die Unschärfen menschlichen Begehrens ließen sich per Gesetz einhegen. Wie verzweifelt sich hier alle gegenseitig mit Klagen drohen, ist fast schon lustig: wegen sexueller Nötigung, Rufmord, körperlicher Gewalt, Erpressung oder Sex auf der Schultoilette. „Warum?“, fragt auch Marie einmal verblüfft, als man sie fragt, ob sie Anzeige erstatten wolle. Wie hier der Glaube an die Kraft des Rechts als naiv entblößt wird, darin besteht vielleicht die wahre Provokation dieser Serie. 

Die sechs Folgen sind vom 3. bis 5. Oktober im Ersten zu sehen, ab 2. Oktober in der ARD-Mediathek.

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