Vor dreißig Jahren fuhren die Busse noch. In „Speed“, einem Action-, keinem Katastrophenfilm, durfte der Bus, um den es ging, nicht einmal langsam werden – die vom Bösen an Bord deponierte Bombe wäre sonst explodiert. In „Speed“ war Tempo Programm, nicht einmal eine unfertige Brücke, mittlerweile ein beliebtes Krisensymbol, konnte den Fortschritt verhindern: Die infrastrukturelle Kluft wurde einfach übersprungen, und am Steuer saß, ungeheuer, mit Sandra Bullock eine Frau, deren bisher größtes Problem es war, keinen Führerschein mehr zu haben.
Wie anders jetzt in „The Lost Bus“, einem Film von Paul Greengrass, der statt einer unfertigen Brücke das krisengeschüttelte Kino übersprungen hat und gleich sofort bei Apples Streamingdienst zu sehen ist. Am Steuer sitzt hier mit Matthew McConaughey ein tätowierter, zerknitterter Mann mit einer langen Liste lebensgroßer Probleme, von denen der pubertierende Sohn (gespielt von Levi, einem der McConaughey-Söhne) noch zu den kleineren zählt. Busfahrer Kevin McKay hat seinen entfremdeten Vater verloren, eine kranke Mutter (Kay McCabe McConaughey, Matthews Mutter, genau), ist unglücklich geschieden und muss, unbezahlter Rechnungen wegen, beim Schultransport um Extraschichten betteln.
Eine geschlagene Dreiviertelstunde sieht man diesem dauertelefonierenden Krisenmanager beim Falsch-Abbiegen zu – ein kleinerer Star als McConaughey hätte wohl keine derart epische Exposition bekommen, in der das Eigentliche dieses Films – das Camp Fire, das verheerendste, das Kalifornien bis heute durchgemacht hat – beinahe zur Nebensache gerät.
„Wir brauchen dringend einen Bus“
Doch nach 45 Minuten ist es endlich so weit: „Wir brauchen dringend einen Bus“, sagt die Lehrerin einer von den Flammen schon bedrängten Schule, und dieses eine Mal in seinem Leben biegt der Mann am Steuer doch noch richtig ab. Kevin McKay wird zumindest phasenweise zu einer Glanzrolle im Sitzen, und Regisseur Paul Greengrass, der weniger Meisterwerker als Handwerksmeister ist, macht, nachdem er den Anfang verdaddelt hat, doch noch das Meiste richtig. Dass er sich – wie schon in „Captain Phillips“ mit Tom Hanks – dabei auf eine wahre Geschichte stützt, trägt dabei ebenso sehr zur Wirkung bei wie das Meer aus Flammen, das er filmisch glaubhaft macht: vom Funkenregen bis zur Glut des Himmels und einer nicht enden wollenden Nacht aus Feuerrauch.
Das Camp Fire hat im November 2018 85 Menschen das Leben gekostet und 13.000 Häuser zerstört; die Idee, es anhand der Irrfahrt eines Schulbusses zu erzählen, hat Produzentin Jamie Lee Curtis gehabt. In Lizzie Johnsons Buch „Paradise“, das dem Film zugrunde liegt, nimmt diese Episode tatsächlich nur wenige Seiten ein, führt aber durch die ganze, untergehende Stadt: Paradise im kalifornischen Butte County, 27.000 Einwohner, von der Feuerwehr schweren Herzens aufgegeben und unter apokalyptischen Bedingungen evakuiert. Kevin McKay sei alles, „was wir da draußen haben“, sagt die Leiterin der Schultransportstelle, als sie den Eltern 22 vermisster Kinder gegenübertritt.
Alle 22 sitzen mit McKay und einer tapferen Lehrerin (America Ferrera) ohne Funkkontakt im verlorenen Bus, erst eingekeilt in der Kolonne der Flüchtenden und der kaum noch vorankommenden Feuerwehr, dann im Spalier fallender, wie Fackeln lodernder Strommasten und schließlich auf Abwegen oberhalb des brennenden Canyons, die man besser nicht mit einem 16-Tonner befährt.
„The Lost Bus“ ist kein großer Film, doch er steigert sich zu einem wahrhaft großen Moment, wenn der Bus in den Wäldern vom Flammenmeer eingeschlossen wird, die Fenster glühen und nur noch verklebte Lüftungsschlitze die Kinder am Leben halten. In diesem Augenblick ist die Verzweiflung total – umso kathartischer wirkt McKays verzweifelter Entschluss, trotz allem wieder weiterzufahren. Und besser noch als diese Schussfahrt gelingt Regisseur Greengrass der alles erlösende Cut, der das den Film prägende Glutrot des Brands im Bruchteil einer Sekunde durch offenen Himmel ersetzt. Jedes Feuer endet, auch wenn es nicht so scheint, und am Ausgang der Hölle wartet eine ganz normale Straße, die in ein erlösend normales Städtchen führt.
„Speed“ endete vor 30 Jahren mit einem, nun ja, filmreifen Kuss. In „The Lost Bus“ ist die Hoffnung bescheidener geworden. Kaum, dass er seinen Bus abgestellt hat, sieht man den unbesungenen Helden McKay als einen Jedermann zur Vermisstenstelle ziehen. Er hat 22 Kinder am Leben gehalten. Jetzt fragt er nach Mutter und Sohn.
„The Lost Bus“ ist bei AppleTV+ zu sehen.
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