Sind Frauen die besseren Leser?
Auf jeden Fall sind sie die Mehrheit Leser! Jeder Autor weiß es, wenn er zur Lesung auf die Bühne geht und in den Saal blickt: Frauen! Ab und zu ein Mann, aber selten ein einzelner, denn es sind die Männer, die hinterher beim Signieren sagen: „Das war meine erste Lesung, meine Frau hat mich gezwungen, aber es war doch wirklich interessant.“ Und Mütter erzählen mir immer wieder: ja, meine Tochter liest, aber mein Sohn nicht. (Dann empfehle ich immer „Rocket Boys“ von Homer Hickam, damit kriegen sie jeden Stoffel ans Lesen!) Aber warum ist das so? Weil uns die Mütter schön früh Märchen vorlesen, während die Väter mit den Jungs basteln oder Eisenbahn spielen. Weil wir Frauen an der Fiktion näher dran sind als an der Wirklichkeit, als Flucht und Trost, wir suchen in Geschichten Vergnügen, Fantasie, Unterhaltung. Männer suchen Sinnvolles, Zweck, greifen zum Sachbuch. Ja, wir sind die besseren Leser, die Dichter wissen das. Ich kann mir bei jeder Frau den Griff zum Buch vorstellen, bei – nur mal zum Beispiel- Trump, Orban, Putin kann ich es eher nicht.
Elke Heidenreich, Jahrgang 1943, lebt als Schriftstellerin in Köln. Für die „Literarische Welt“ schrieb sie „Heidenreichs Bücherschau“, im Fernsehen wurde sie u. a. durch ihre ZDF-Sendung „Lesen!“ und den Schweizer „Literaturclub“ bekannt. Zuletzt erschien „Altern“ (Hanser Berlin).
Warum brauchen Bestseller Kritik, Denis Scheck?
Wenn wir das Feld der Literatur nicht TikTok-Teenies überlassen wollen, die ihre Bücher passend zur Tapetenfarbe aussuchen, dürfen wir uns als Literaturkritiker nicht zu schade sein, uns gelegentlich auch mit jenen Büchern zu befassen, die in Deutschland am meisten gekauft und vermutlich auch gelesen werden. Ohne energisch vorangetragene intellektuelle Abbrucharbeiten west alles ewig vor sich hin und kehrt am Ende machtvoll wieder. Zum Beispiel der Lore-Roman in Gestalt von Romantasy. Gelegentlich ist schon die literaturkritische Blutgrätsche erforderlich, um den Unterschied zwischen Sebastian Fitzek und Daniel Kehlmann, Melanie Pignitter und Annie Ernaux oder zwischen Eckhart von Hirschhausen und Yuval Noah Harari zu markieren. Im Moment ist er ja ein bisschen aus der Mode, weil sich so viele gern aufs hohe Ross der Moral setzen, statt sich mit ästhetischen Fragen zu befassen, aber mir bereitet Arno Schmidt immer noch großes Vergnügen mit seinen galligen Sprüchen, etwa: „Dichter: erhältst Du den Beifall des Volkes, so frage Dich: was habe ich schlecht gemacht?! Erhält ihn auch Dein zweites Buch, so wirf die Feder fort…“. Allerdings hat Schmidt auch geschrieben: „Ein Rezensent kommt mir manchmal vor wie der Mann, der eine Wolke beobachtet und ihr übelnimmt, dass sie nicht die Gestalt des Kamels angenommen hat, das er jeden Tag im Spiegel sieht.“
Denis Scheck, 1964 in Stuttgart geboren, moderiert seit 20 Jahren die TV-Sendung „Druckfrisch“. Für die „Literarische Welt“ hat er in 100 Folgen „Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ publiziert (auch als Buch bei Piper). Soeben hat er (mit Eva Gritzmann) „Kafkas Kochbuch“ bei Klett-Cotta herausgegeben.
Ist Europas Literatur genügend vernetzt, Michael Krüger?
Kennt sich jemand aus in moderner portugiesischer Literatur? Oder was gerade in Lettland geschrieben wird? Hat jemand eine Ahnung davon, ob in Litauen mehr als 22 Bahnen geschwommen werden? Ich weiß nicht, ob irgendetwas den dramatischen Zerfall der europäischen Idee verhindern oder auch nur aufhalten kann, die europäische Literatur kann es nicht mehr – denn keiner will sie mehr lesen. Hätten zehn Prozent der modernen jungen schönen Menschen, die jährlich Party feiern auf Ibiza, die großartigen Bücher des ibizenkischen Schriftstellers Vicente Valero gelesen, hätte sein deutscher Verleger, Heinrich Berenberg, seinen Verlag nicht schließen müssen. Die eine Million deutscher Touristen, die jährlich nach Griechenland fährt, hat weder die „Ilias“ noch die Romane von Kazantzakis oder ein Gedicht der Nobelpreisträger Seferis oder Elytis oder des in aller Welt gerühmten Poeten Konstantinos Kavafis oder irgendeinen zeitgenössischen griechischen Schriftsteller gelesen, weil die Ferien genutzt werden, um endlich den neuen Roman der schottischen Schriftstellerin und Biochemikerin Leigh Rivers zu studieren, der sogar von seriösen Buchhandlungen folgendermaßen angekündigt wird: „Malachi Vize hatte immer nur einen Wunsch im Leben. Eine tiefe Besessenheit, die er nie ablegen konnte. Seine Pflegeschwester Olivia. Zum ersten Mal hat sie ihn der ganzen Welt vorgezogen, und er hat vor, sie für immer in seinem festen Griff …“. Die drei Punkte deuten an, dass es schiefgehen muss mit der Pflegeschwester, so wie es bedenklich schiefläuft mit der Pflege im Allgemeinen. Es ist diese Art von saurem Kitsch, die heute europaweit die Literatur nicht ersetzt, aber verdrängt hat – und wahrscheinlich dafür sorgt, dass der Buchhandel überhaupt noch existiert. Die russische Literatur wird, wie nach der Revolution, in Deutschland geschrieben; die afghanische und persische Dichtung wird bei Wallstein in Göttingen und bei vielen anderen kleinen Verlagen verlegt. Man lese einmal den Band der in Berlin lebenden afghanischen Dichterin Mariam Meetra „Ich habe den Zorn des Windes gesehen“ (Wallstein), dann begreift man etwas von den Menschen, von denen hier (fast) nur noch als Abschiebeware gesprochen wird. Und wenn es in den USA mit der Ent-Demokratisierung so weitergeht, werden ja bald auch die amerikanischen Schriftsteller nach Deutschland kommen. Nein, nicht die Autoren der Pflegeschwester-Romane, sondern die wirklichen Schriftsteller, die alle an dem großen amerikanischen Roman mitgeschrieben haben.
Michael Krüger, 1943 geboren, ist Schriftsteller und war bis 2013 Leiter der Hanser Verlags. Seit den Siebzigerjahren hat er mehrere Gedichtbände und Erzählungen veröffentlicht, er arbeitet als Übersetzer und ist in verschiedenen Akademien aktiv. Soeben ist der zweite Teil seiner Erinnerungen erschienen, „Unter Dichtern“ (Suhrkamp).
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