Es ist Zeit für eine Rückschau: Als Shermin Langhoff 2013 die Leitung des Maxim-Gorki-Theaters übernahm, hob man gegenüber – auf der anderen Seite von Unter den Linden – gerade die Baugrube für den Neubau des Berliner Stadtschlosses aus. Der Palast der Republik abgerissen, schließt sich das alte Ensemble preußischer Machtrepräsentation mit Schloss, Dom, Museum, Oper, Universität, Bibliothek und Neue Wache wieder zu einem Block in der Mitte der Hauptstadt. Und mittendrin, wie ein gallisches Dorf, das kleine Gorki-Theater, das die Geschichten auf die Bühne bringt, die im alten wie auch im neu erträumten Preußen keine große Rolle spielen – wie die der „Gastarbeiter“.
Zwölf Jahre steht das Schloss und ragt mit Kuppel und umstrittenem Kreuz in den trüben Herbsthimmel, während Langhoff in ihre letzte Spielzeit am Gorki-Theater startet. Mit Çağla İlk, die früher selbst Dramaturgin am Haus war und danach die Kunsthalle Baden-Baden leitete sowie den Deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig kuratierte, steht ihre Nachfolgerin bereits fest. Berlins Kurzzeitkultursenator Joe Chialo hat sie ohne großes Auswahlprozedere ernannt. Doch bevor İlk wie angekündigt mit genreüberschreitenden Experimenten zwischen Kunst und Theater loslegen wird, wagt Langhoff eine Rückschau auf ihre Ära. Sie setzte am Festungsgraben das „postmigrantische Theater“ durch und etablierte einen offensiv, oft mehr mit aktivistischen als künstlerischen Mitteln vorgetragenen Minderheitenschutz. Das hat über Berlin hinaus einen Nerv getroffen.
Wie als Langhoffs Vermächtnis – und zudem nach einer Idee von ihr – inszeniert Ersan Mondtag zur Spielzeiteröffnung „Das Rote Haus“. Nach einem Roman von Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar („Die Brücke vom Goldenen Horn“) und basierend auf Gesprächen mit Zeitzeugen geht es um ein geschichtsträchtiges Haus in der Kreuzberger Stresemannstraße, in dem nicht nur ein vom späteren Reichskanzler Otto von Bismarck besuchtes preußisches Internat untergebracht war, sondern in den 1960er-Jahren auch ein Wohnheim für aus der Türkei gekommene „Gastarbeiter“ der AEG Telefunken. „Wonaym“ nennen es die Frauen in Özdamars Buch, die tagsüber in der Fabrik an Radioröhren schrauben und in den Nächten über den Ku’damm streifen.
Die Bühne zeigt den Innenraum des Wohnheims mit Doppelstockstahlbetten. Die rote Farbe blättert bereits von den Wänden ab und durch die großen Fenster sieht man die Leuchtreklame am gegenüberliegenden Haus, das man sich als das damalige Hebbel-Theater vorstellen kann. Vier Frauen lernt man kennen, deren Lebensgeschichten in animierten Videos von Luis August Krawen erzählt werden. Einmal begegnen sie einem jung und lebenshungrig in den 1960er-Jahren, einmal alt und noch lange nicht lebenssatt in der Jetztzeit. Durch die zwei Zeitebenen wird ein Stück bundesrepublikanische Geschichte von damals bis heute erzählt, mit dem hier typischen Fokus auf Migration.
Dystopie der nahen Zukunft?
Es geht in „Das Rote Haus“ auch um die Begegnung der Generation der „Gastarbeiter“, wie sie damals genannt wurden, mit dem Osttheater – insbesondere dem von Bertolt Brecht gegründeten Berliner Ensemble mit seiner Intendantin Helene Weigel, die Frank Büttner im Samtkleid mit Zigarette spielt (Kostüme von Josa Marx). „Der Brecht war doch Türke!“, ruft eine der Frauen halb im Scherz aus. Sie sind fasziniert von den Stücken des selbst vielfach exilierten Brecht. Außerdem lassen sie sich im „Wonaym“ auch von einem jungen Schnauzbartmarxisten (Emre Aksızoğlu) in historischem Materialismus unterrichten. Man staunt, was es zwischen Ost und West für Begegnungen gibt.
Der Reiz von „Das Rote Haus“ liegt nicht so sehr in der Inszenierung, dafür passen Mondtags düstere Bühnensprache und Özdamars heiterer Ton nicht gut genug zusammen. Was dem Abend aber gelingt, sind die Überblendungen und Spiegelungen: Die Begegnung von „Gastarbeitern“ und Osttheater findet nicht nur in der Handlung statt, sondern als Ost-West- und Generationenaustausch auch im Ensemble auf der Bühne. Da spielt die Gorki-Legende Ursula Werner (von 1974 an für ganze 35 Jahre fest am Haus!) zusammen mit Semra Uysallar, Sema Poyraz und Eva Maria Keller die vier alten „Versionen“ von Yanina Cerón, Flavia Lefèvre, Via Jikeli und Çiğdem Teke.
Das Gorki-Theater selbst, 1952 in der DDR gegründet und nach dem berühmten russisch-sowjetischen Schriftsteller benannt, ist auch eine Art „rotes Haus“ (und für manche wahrscheinlich auch ein rotes Tuch), das unter Langhoff nicht nur politisch eingreifen, sondern verschiedene Lebenswelten zusammenbringen wollte. Dafür steht die noch amtierende Intendantin mit ihrem Namen: In der Türkei geboren, arbeitete ihre Mutter im Fränkischen bei der AEG. Shermin zieht es zur Berliner Volksbühne und heiratet in die legendäre ostdeutsche Langhoff-Theaterfamilie ein. Ist das eine andere deutsche Einheit, die zwar kein Schloss, aber zeitweise ein Theater bekommen hat (und immerhin ein Schinkel-Bau)? Wie ein Gegenentwurf zur Berliner Republik, der in „Das Rote Haus“ durch einen anatolischen Frauenchor stimmkräftig unterstützt wird?
Am Ende taucht noch der Oberpreuße von Bismarck auf, passend zum neuen Schloss zwar nur im historischen Kostüm, das Gebrüll wirkt aber echt (eine Paradedisziplin des Castorf-Schauspielers Büttner). Draußen, vor den Fenstern, hört man Einheitsgeschrei („Wir sind das Volk!“), gefolgt vom Ruf nach „Remigration“ der „Gastarbeiter“ und ihrer Nachkommen. Polizei marschiert im Abschiebelager auf, „Gute Heimreise!“ steht auf einer Wimpelkette. Eine Dystopie der nahen Zukunft? Mondtag, nun in seinem Element, will merklich aufrütteln. Die Wirklichkeit draußen hat das Haus eingeholt, die Zeiten haben sich geändert. Das ist längst nicht mehr nur eine Rückschau, sondern eine gewichtige Selbsthistorisierung, die das Gorki-Theater mit „Das Rote Haus“ präsentiert.
„Das Rote Haus“ (Regie: Ersan Mondtag) läuft am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Nächste Termin: 19. Oktober, 7. und 26. November
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