Vom panegyrischen Register, das die Ankündigungen der vorletzten beiden Sendungen des „Literarischen Quartetts“ bestimmte („Formulierungen zum Niederknien“ im Mai, nach der Sommerpause, im September, dann: „Sätze zum Verneigen“), hat man sich beim „Spezial zum Jubiläum“ freigemacht, sieht man einmal vom selten gehörten Verb „adorieren“ ab, das Gastgeberin Thea Dorn dann, nomen est omen, irgendwann in den knapp 50 Minuten über die Lippen kommt. Über dem Video, das das ZDF am 10.10. um 10 Uhr auf seiner Website freigeschaltet hat, steht diesmal ein Zitat, das nach Streit klingt: „Jedes Wort ein Kampf“.
Seit zehn Jahren gibt es die Sendung wieder, nachdem sie mit Marcel Reich-Ranicki von 1988 bis 2001 zur Fernsehlegende geworden war. Noch eine Zehn also. Das feiere man jetzt mit „einer ganz normalen Ausgabe“, sagte Dorn, seit 2017 Teilnehmerin, ab 2019 dann Gastgeberin, gerade der Fernsehzeitschrift „Prisma“. Die allerdings besondere Gäste habe: „Meine Redaktion und ich, wir fanden es interessant zu erfahren, was und wie Menschen lesen, die von Amts wegen einmal Deutschlands oberste Repräsentanten für die Kultur gewesen sind.“ Gäste sind drei ehemalige Kulturstaatsminister: Monika Grütters, Julian Nida-Rümelin und Claudia Roth.
Fast ein kleiner Staatsakt also. Ein großer wäre es geworden, wenn auch der aktuelle Kulturstaatsminister eingeladen worden wäre. Vielleicht hätte Wolfram Weimer etwas von Thomas Mann mitbringen und noch einmal erklären können, wer denn in der Berliner Republik „jeden in die rechte Ecke stellen“ will, „der lieber Thomas Mann als Bert Brecht liest.“ Vielleicht Manns Radioansprachen gegen Hitler? Weimer ist aber nicht da. Obwohl parteilos hätte er als Teil einer CDU-geführten Regierung auch für ein bisschen Unwucht in der Runde sorgen können, denn mit Grütters (CDU) saß ja die Amtsinhaberin unter Merkel, mit Nida-Rümelin der unter Schröder und mit Roth die Staatsministerin unter Scholz, aber vor allem auch Habeck, am Tisch. Weder Brecht noch Mann sind übrigens Thema in der Sendung zum zweiten Zehnjährigen.
China, Corona und Silicon Valley
Es geht um zwei Klassiker, einen wohlbekannten, nämlich Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ von 1932 und einen weniger bekannten, José Rizals: „Noli me tangere“. Der Roman wurde 1887 geschrieben. Sein Autor, der auch Arzt war (in Heidelberg absolvierte er die Fachausbildung in Augenheilkunde und übersetzte nebenbei den „Wilhelm Tell“ ins Tagalog) und vor allem Widerständler, wurde 1896 mit nur 35 Jahren von der spanischen Kolonialregierung hingerichtet. Auf den Philippinen, die in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse sind, ist er ein Volksheld, auf der Messe ist eine Sentenz aus dem Roman, der in Deutschland jetzt im Insel-Verlag wiederveröffentlicht worden ist – „Fantasie beseelt die Luft“ – Ehrengastmotto.
Außerdem diskutiert werden eine fast aktuelle und eine ganz neue Veröffentlichung: Iris Wolffs Roman „Lichtung“ (Klett-Cotta) vom Beginn letzten Jahres, 2024 dann auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, und Albert Ostermaiers gerade erschienenes Buch „Die Liebe geht weiter. Roman mit Pasolini“ (Matthes und Seitz Berlin), eine Anverwandlung der nachgelassenen 112 Sonette des italienischen Filmemachers, Dichters und Romanciers, der vor ziemlich genau 50 Jahren am Strand von Ostia ermordet wurde.
„Jedes Wort ein Kampf“ ist der Halbsatz, den Philosoph Nida-Rümelin ausspricht. Dass Politiker in höchsten Ämtern – Claudia Roth ist die einzige aktive Parlamentarierin in der Runde – abwesend sind, könnte mit dazu beigetragen haben, dass damit nicht der an allen Ecken tobende Kulturkampf gemeint ist. Das Buch von Ostermaier hat Claudia Roth mitgebracht. Es ist der einzige Titel, bei dessen Diskussion es zu so etwas wie einem Wortgefecht kommt. Bei der Diskussion von Huxley, Nida-Rümelins Wahl, hat man zuvor das Übliche gehört und ist froh, dass der Münchner Professor nicht Orwell inflationär zitiertes „1984“ in die Runde getragen hat, obwohl freilich die Stichworte China, Corona und Silicon Valley fallen müssen, auch wenn es um „Brave New World geht“.
„Es fließt so dahin“
Der Konflikt um Ostermaiers Buch entbrennt an Roths Plädoyer für die Widerständigkeit des Poetischen. Dass Ostermaier – wohl eigene – Erfahrungen mit sexueller Gewalt in ein Buch einfließen lässt, das Pasolinis Beziehung zu einem sehr jungen Mann, Ninetto Davoli, thematisiert, ist der Kontext, in dem Roth sagt, „entgrenzte Sprache“ werde sie nachher wieder im Bundestag erleben, Ostermaier setze solcher Sprache „das Plädoyer für die Poesie“ entgegen. Findet Thea Dorn gar nicht: „Nein, er sagt, wir sollen Kinderficker Kinderficker nennen“, darum gehe es. „Und er nennt es auch so“, springt Grütters Dorn bei.
In Iris Wolffs Erzählen über zwei Rumänen, die eine Verbindung aus Jugendtagen haben, die aber durch Emigration und Fall des Eisernen Vorhangs auf die Probe gestellt wird, erkennt Dorn dann „das Gegenteil von Sprache als Waffe.“ So kommentiert die Gastgeberin Nida Rümelins Beschreibung der Wolff’schen Naturbeschreibungen, in die die Charaktere des Buches eingebettet seien: „es fließt so dahin“.
Roth sieht Wolffs Sprache hingegen eher als Entspannungsübungen: „Mich hat das richtig runtergeholt, mich hat das so beruhigt“ und fährt – vielleicht doch etwas angefasst vom Protest gegen ihre Ostermaier-Interpretation – fort: „Wie ich bei Ostermaier eben Poesie erlebe als etwas ganz Starkes“, erlebe sie Poesie auch bei Wolff als Form des Widerstands, „aber ganz anders“. Identitäten würden im „Lichtungen“ zwar angesprochen, aber dann relativiert, sagt Nida-Rümelin. Roth sekundiert: „Heimat ist so was in Bewegung, so was Prozesshaftes.“
Im Gespräch um den Roman des Philippinen Rizal erfährt man, dass Monika Grütters Bruder „mit einer Philippina verheiratet ist“, aber wie alle am Tisch kannte auch sie das Werk des Autors noch nicht, bevor es jetzt wieder aufgelegt wurde. Thea Dorn spricht jetzt von „Literatur als Waffe“, was Grütters dann näher ausführt: „Es war ein literarischer Angriff auf die koloniale Unterdrückung der Philippinen durch die Spanier und aber auch durch die katholische Kirche.“ Als „Dokument einer geschundenen Nation“ bezeichnet Nida-Rümelin „Noli me tangere“, die Lektüre sei ihm aber streckenweise „ein bisschen mühsam“ gefallen. Auf Dorns Beschreibung „Politische Literatur in Reinkultur und gleichzeitig ist es überhaupt kein Pamphlet“ kann man sich dann aber einigen.
In einer Großen Koalition kann man sich die drei Staatsminister a.D. eigentlich gut vorstellen. Harmonischer als die Koalitionen, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, agieren sie jedenfalls.
Das Literarische Quartett läuft am 10. Oktober 2025 um 23.30 Uhr im ZDF. Es ist auch in der ZDF-Mediathek abrufbar.
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