Im Januar 2022 wurde auf die Paul-Gerhardt-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg ein Brandanschlag verübt. Der Altar mit einem Bild, das Jesus darstellt, verbrannte. Orgelpfeifen schmolzen im Feuer. Das ganze Gebäude ist klebrig verrußt, bis heute ist es nicht renoviert, und keine Gottesdienste können dort stattfinden.
Die Nachricht blieb auf lokale Medien beschränkt. Ein Kirchenbrand, der sich nicht so schnell mit einem der aktuellen Hassgräben aus den Schlagzeilen in Verbindung bringen lässt, ist nicht so berichtenswert, wie es ein ähnlicher Anschlag auf eine Synagoge oder Moschee gewesen wäre. Über den Täter weiß man bis heute nichts. Es könnte Hass auf die Kirche an sich oder auf diese spezielle Gemeinde dahinterstecken, es könnte aber auch einfach ein Betrunkener oder Neurodivergenter gewesen sein.
Beide Theorien beweisen, dass das Christentum auch in unserer Gesellschaft noch über Wirkungsmacht verfügt. An der Entheiligung seiner Symbole kann sich auch der glaubensschwächste Troglodyt noch zuverlässiger aufgeilen – hier ist das derbe gute deutsche Wort angebracht – als bloß damit, Sitze im öffentlichen Nahverkehr aufzuschlitzen oder E-Roller in einen Teich zu schmeißen. Über den Pinkler vom Petersdom, dessen Identität, Nation und Motiv die italienische Polizei drei Tage nach seiner Tat immer noch nicht mitgeteilt hat, kann man doch eines ganz sicher sagen: dass er sein Genital, als er auf den Altar der Papstkirche in Rom kletterte und seine Blase entleerte, mächtiger spürte, als wenn er den gleichen Akt in einer Nische des Frankfurter Bahnhofsviertels verrichtet hätte.
Diesen stimulierenden Effekt hat Kirchenschändung nicht nur auf tumbe Hooligans, sondern auch auf Künstler und Intellektuelle – und manchmal sogar auf vom postmodernen Selbsthass angekränkelte Christen. Den Beweis kann man in diesen Tagen in Großbritannien besichtigen. Dort lud der Dekan der Kathedrale von Canterbury Graffitikünstler ein, den Innenraum der Mutterkirche des englischen Christentums zu verhunzen. Das Ziel war, „marginalised communities“ („marginalisierte Gemeinschaften“) sichtbar zu machen.
Der „Poet“ Alex Vellis, den die Kirche mit der Organisation dieser Entweihung beauftragt hatte, nennt Graffiti die „Sprache der Unerhörten“ und ergänzt: „Wir schließen uns einem Chor der Vergessenen, der Verlorenen und der Wunderbaren an – Menschen, die ihre Spuren hinterlassen wollten, die sagen wollten: ‚Ich war hier‘, und deren Einkerbungen ihre Stimme durch die Jahrhunderte tragen sollten.“ Das klingt rührend, aber es ist wert, daran zu erinnern, dass der „Chor der Vergessenen“, die ihre Graffiti irgendwo hinterließen, in Europa einst anhob mit dem Mann, der in Pompeji an die Wand kritzelte: „Ich habe die Wirtin gevögelt“ – bevor der Vulkanausbruch ihn und seine Gastgeberin unter glühend heißer Asche begrub.
Mit seiner Wortwahl wich der Graffiti-Propagandist Vellis keinen Millimeter weit ab von jener soziologischen Rhetorik, mit der vor 40 Jahren das Sprühdosen-Gekritzel junger Sachbeschädiger in den amerikanischen Innenstädten zu einem Akt des Widerstands gegen Rassismus und Kapitalismus erklärt wurde. Diese Art von Beweihräucherung hört man nicht mehr so oft, seitdem Graffiti zu einem allgegenwärtigen Krebs in den Städten des Westens geworden ist, der moderne Gebäude noch hässlicher macht und alles schöne Alte, sorgsam Hergestellte, das noch übriggeblieben ist, mit seinen vulgären Protzgesten überzieht.
Graffitischmierer sind in den Augen der meisten Menschen nichts anderes als das Äquivalent von Hunden, die mit Urin ihr Revier markieren – nur dass sie eben großflächig Farbe pinkeln. Deshalb war die Wirkung der Kunst in der Kathedrale auf die meisten Menschen die gleiche, die das Sakrileg im Petersdom auslöste: Ekel und das vage Gefühl, unwiederbringlich beraubt worden zu sein.
Ein von der BBC zitierter Kirchenbesucher brachte das Wirken der „Wunderbaren“ und der „kompetenten Künstler“, von denen der Dekan der Canterbury-Gemeinde sprach, auf den Punkt: Die Kathedrale sehe jetzt aus „wie ein unterirdisches Parkhaus in Peckham“, einem Stadtteil im Südosten von London. Der konservative amerikanische Kommentator Rotimi Adeoye ließ die ganze schillernde Kuratoren-Hirnblase, die hinter der Kunstaktion steckt, mit einem Satz platzen, der von tatsächlicher Kenntnis der Lebensumstände jener „ungehörten“ Menschen zeugt, die hier angeblich repräsentiert werden sollen: „Es ist auch irgendwie seltsam, dass Graffiti angeblich für ‚marginalisierte Gemeinschaften‘ stehen soll, obwohl die meisten dieser Gemeinschaften es tatsächlich hassen, wenn ihre Viertel voller Graffiti sind, und sich – wie alle anderen auch – saubere, sichere öffentliche Räume wünschen.“
Dagegen hysterisierte sich der Dekan von Canterbury in typischer neu-westlicher Unterwerfungs-Sehnsucht in eine Schein-Epiphanie hinein, als habe er durch die „Marginalisierten“ zum ersten Mal Gott gesehen. Die Graffiti, so ließ er sich vernehmen, „ermöglicht es uns, die Gaben junger Menschen anzunehmen, die viel zu sagen haben und von denen wir viel hören müssen. Vor allem aber lässt mich dieses Graffiti darüber nachdenken, warum ich nicht immer in der Lage bin, so offen zu sein – insbesondere in meinen Gebeten.“
Man muss dem amerikanischen Vizepräsidenten J.D. Vance recht geben, der die Aktion kommentierte: „Ich finde es seltsam, dass diese Leute den Widerspruch nicht erkennen, wenn sie ‚marginalisierte Gemeinschaften‘ ehren wollen, indem sie ein wunderschönes historisches Gebäude richtig hässlich machen.“ Als auch Elon Musk sich ähnlich äußerte, beschimpfte sie der Graffiti-Poet Vellis, er könne ihre „Kleinschwanz-Energie“ („small dick energy“) spüren – und bewies damit unfreiwillig, dass es ihm – wie dem Pinkler in Rom und dem Bordellbesucher in Pompeji – um einen Akt phallischer Selbstermächtigung geht.
Die wollüstige Anbetung des Hässlichen und Anti-Christlichen, mit der die neurodivergente letzte Generation schändet, was 500 Generationen vor ihnen heilig war, entspricht der allgemeinen Tendenz zur Selbstverstümmelung. Diese ist unübersehbarer psychologischer Grundzug der Postmoderne – mit all ihren Tätowierungen, betont unnatürlichen Haarfarben, Botoxlippen, Silikonbrüsten, Piercings, Brandings, Implantaten und Genitaldeformationen zur „Geschlechtsangleichung“. Es ist Selbsthass als letzte Stufe der spätwestlichen Dekadenz. Hass auf den eigenen Körper und Hass auf jede Größe und Schönheit, die provozierend daran erinnern, wie klein und hässlich man am Ende aller Operationen ist. Aus Wut darüber vollzieht man schließlich den finalen Akt der Selbstverstümmelung und schändet die Grundfesten unserer Zivilisation.
Vorbereitet wurden solche Entheiligungen im Namen von Kunst, Toleranz, Emanzipation durch 250 Jahre antikirchliche Propaganda seit der Aufklärung. Was gerechtfertigt und gefährlich war, als Voltaire angesichts einer mächtigen und korrupten katholischen Kirche „Écrasez l’infâme!“ rief, ist heute nur noch eine risikolose Pose, mit der der letzte Provinzkünstler sein banales Tun als Widerstandsakt deklarieren kann. Die Kunst heiligt sich, indem sie das Heilige in den Dreck zieht.
Diese Scheinheiligung der Kunst führt dazu, dass man in bestimmten Kreisen kaum noch wagt, Abscheu angesichts plumpster Anschläge auf das wahrhaft Heilige laut zu äußern. Eine solche Hirnlähmung hielt große Teile des Publikums – darunter den Bundespräsidenten – beim vollkommen missglückten Festakt „1250 Jahre Westfalen“, der im Mai 2025 im Paderborner Dom stattfand, auf den Kirchenstühlen fest. Dort tanzte eine Performance-Gruppe mit Tiefkühlhühnern, die in Windeln gewickelt waren, durch den Altarraum. Gerechtfertigt wurde das merkwürdigerweise nicht damit, dass man marginalisierte Wirbeltiere sichtbar machen wolle, dabei sind Hühner in der modernen Fleischindustrie gewiss tausendfach marginalisierter als die „marginalisierten Gruppen“ von Canterbury.
Wie sich hinterher herausstellte, fühlte sich in Paderborn keiner der Gäste von dem Unfug inspiriert oder berührt. Das Metropolitankapitel des Erzbistums entschuldigte sich sogar später für die so nicht abgesprochene Aufführung. Der Domprobst Joachim Göbel betonte, das Programm sei anders geplant und angekündigt gewesen. Aber man habe während der Vorstellung nicht zensieren wollen.
Die Antwort findet man in Berlin und Stuttgart
Das ist ehrenwert, und ein erzwungener Abbruch hätte den Kirchen gewiss auch den wohlfeilen Vorwurf der „Cancel Culture von rechts“ eingebracht. Aber unverständlich bleibt, warum niemand aufstand und buhte oder „Schwachsinn“ rief, als sich die beiden halbnackten Männer und die Frau der Gruppe „body talk“ – alle weiß wie ihre Tiefkühlhühnchen – mit einem eingefrorenen selbstgefälligen Grinsen im Gesicht daran weideten, einen sakralen Raum zu entweihen.
Die Antwort darauf findet man in Berlin und Stuttgart. Paderborn war eine Provinzposse, aber in den genannten Metropolen feierte man 2024 die Opernperformance „Sancta“, in der sich kulturelle Selbstverstümmelung und tatsächliche Selbstverstümmelung zu einem abstoßenden Ritus vereinen. Dafür überredete eine manipulative Regisseurin ihre psychisch labilen Darstellerinnen, sich tatsächlich in jeder Vorstellung ein winziges Stückchen Fleisch aus dem eigenen Körper zu schneiden, es zu braten und zu essen. Sinn des Ganzen war es wohl, dem kannibalischen Element in der Eucharistie mal wieder die Maske vom Gesicht zu reißen – zum fünfhundertmillionsten Mal, seitdem Jean Calvin dieses magische Denken aus der Abendmahlstradition gestrichen hat und damit den reformierten Protestantismus begründete.
Für dieses Einrennen weit offenstehender Türen wird man im Kunst- und Theaterbetrieb immer noch gefeiert. Das Christentum mag geschwächt sein, aber seine Wirkungsmacht ist immer noch so groß, dass Künstler von ihm parasitär profitieren können. Kritiker wählten „Sancta“ zur „Theateraufführung des Jahres“. Wenn der Pinkler vom Petersdom getanzt, musiziert und seine Aktion „marginalisierten Gruppen“ gewidmet hätte, würde ihm gewiss ähnliche Ehre zuteil.
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