Alle sind sie versammelt: Helmut Dietl und Franz Xaver Kroetz, Herbert Achternbusch und Gerhard Polt. Josef Bierbichler ist auch dabei. Legenden, die für das München der 1980er-Jahre stehen – die Epoche von „Kir Royal“ und „Monaco Franze“, der Schwabinger Bohème und der Schickeria. Und nun? Sollen die Helden von damals an einem neuen Drehbuch arbeiten. Der sprechende Titel: „Lost“. Verloren wirkt allerdings einiges in „Lapidarium“, dem am Münchner Residenztheater uraufgeführten Theaterstück von Rainald Goetz: Das aufregende München von früher, die Jugend der Lebenden und die vielen Weggefährten. Goetz kehrt in seine Heimatstadt zurück – und nimmt gleichzeitig Abschied.
Aus dem „Lost“-Vorhaben wird nichts, stattdessen heißt es bei Goetz „Lost in Life“. Nur ist das Leben immer mehr ein Gespräch mit den Toten. Weit größer als die Versammlung der noch lebenden alten Recken ist inzwischen der Chor von Verstorbenen, die auf der Bühne wie als Beschwörung aufgezählt werden. Da ist zum Beispiel der 2018 gestorbene Michael Rutschky, der frühe intellektuelle Mentor, den Goetz in der Wärme der leiblichen Begegnung und der Kälte seiner Tagebuchaufzeichnungen porträtiert. Es fallen viele weitere Namen, über 250 wohl, meist nur wie kurze Inschriften auf einem Grabstein beim Rundgang über einen Friedhof (daher kommt auch der Begriff „Lapidarium“).
Wie soll man dieses Stück nennen? Ein Vermächtnis? Einen Abgesang? Oder ein Versuch, das Sterben zu lernen, wie es Platon über die Philosophie sagte? Als Goetz im vergangenen Jahr seinen 70. Geburtstag feierte, brachte Suhrkamp gleich zwei neue blaue Bände des Schriftstellers heraus, darunter auch den Stücke-Band „Lapidarium“. Eine Trilogie, deren Abschluss das titelgebende Stück bildet. Vorne ein Zitat von Harry Styles: „Welcome to the final show“. Abschiedstournee also? Die Uraufführungen sind wie eine kleine Reise durch die Bundesrepublik, die von Hamburg („Reich des Todes“) über Berlin („Baracke“) nun dort endet, wo alles seinen Anfang nahm: in München.
Friedhofsstimmung lässt Elsa-Sophie Jach, die 1991 geborene Regisseurin der Uraufführung, nicht aufkommen. Das sechsköpfige Ensemble stellt sie meist vorn an die Rampe, den Text in den Saal sprechend, wo sich bei der Premiere der Autor selbst unter den Lebenden tummelt. Für die Bühne greift Aleksandra Pavlović das Blau der Goetz-Bände auf, so auch Johanna Stenzel bei den an Playmobil-Cowboys erinnernden Kostümen. Dass zwischendrin mit Farbe gespritzt oder später die Regenmaschine angeworfen wird, wirkt wie der – hilflose oder wenig vertrauensvolle? – Versuch, dem Text gegenüber irgendeine Tätigkeit zu simulieren, was es keineswegs gebraucht hätte.
Der Text ist am stärksten, wo er sich frei von inszenatorischem oder schauspielerischem Manierismus entfalten kann, wo man spürt, dass ihn selbst etwas fort- und vorantreibt. Selten erlebt man eine so rücksichtslose Vermessung des Selbst wie in dem „Ich-Stück“ genannten „Lapidarium“ (nachdem es in „Reich des Todes“ um Politik und in „Baracke“ um Familie ging, ein Hegel’scher Dreischritt wie schon in der früheren Trilogie „Krieg“). Das Ich trifft hier auf seine zahlreichen Negationen, die sich zugleich als Erweiterung seiner Erfahrung erweisen: als Aufhebung im Nicht-Ich. Das sind der Andere, der Text, der Sex oder die eigenen Kinder. Und zuletzt der Tod, als die Grenze jeder Erfahrung.
Obwohl der Text wie aus losen Notizen bestehend wirkt, die mit exzessivem Namedropping einer untergegangenen bundesdeutschen Kultur huldigen, zeigt sich doch ein stetes thematisches Kreisen, das sich als erstaunlich systematisch und metaphysisch durchwirkt erweist. Es sind Bekenntnisse eines „Textmenschen“ im Angesicht der Endlichkeit, beseelt von einer seit Romantik und Klassik nie abgebrochenen Suche nach dem absoluten Text. Dazu kommt ein unbedingter Glaube an die Selbstgesetzgebung in der Kunst, aber auch im Leben. Was heißt es, alles in die eigene Hand zu nehmen? Das führt bis zur Frage der Selbsttötung, am Beispiel des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf.
Vom Selbstverständlichkeitsromantizismus der Jugend, den in Naturbetrachtungen versunkenen Männerfreundschaften wie bei Caspar David Friedrich, bis zum Notwendigkeitsklassizismus des Alters – dem von Jean Paul proklamierten „Vollglück in der Beschränkung“ – reicht die Palette der Goetz’schen Gedankenbilder, die es mit Lebenshaltungen (nicht zu verwechseln mit: Lebenserhaltung) zu tun haben. Sie sind verwoben mit einem selten gewordenen ästhetischen Eigensinn. Die Frage „Wie wollen wir leben?“ wird durch „Wie will ich sterben?“ abgelöst. Der letzte Satz des Stücks ist schon eine Antwort, die dem Ende mit fast heiterer Gelassenheit entgegenblickt: „Ja, ich bin bereit.“
In seiner Lebens- und Todeszugewandtheit fügt sich „Lapidarium“ am Münchner Residenztheater gut in den Spielplan ein. Bereits im Sommer feierte „Gschichtn vom Brandner Kaspar“ Uraufführung. Die Neufassung des altbekannten bayrischen Volksstücks, in dem der „Boandlkramer“ genannte Tod überlistet werden soll, hat Kroetz nach langer Pause als Dramatiker höchstselbst verfasst, dem Goetz wiederum sein „Lapidarium“ gewidmet hat. Die Inszenierung von Philipp Stölzl ist in ihrer fantastischen Fülle, ihrer kindlichen Freude an Theatermitteln wie gemalten Bühnenprospekten und mit Blick auf den Goetz-Kroetz-Kontrast unbedingt sehenswert.
Einen weiteren Theaterabend am Residenztheater lohnt es sich zu nennen, der auch ein München-Abend ist: „Kasimir und Karoline“ in der Regie von Barbara Frey. Herbstlaub liegt unter den Biergartenstühlen auf der im Halbdunkel liegenden Bühne, auf die Martin Zehetgruber überlebensgroße Maßkrüge gestellt hat. Dass wenigstens am Biertisch alle gleich sind und im Taumel des Oktoberfests jegliche Standesunterschiede vergessen sind, hat Ödön von Horváth in seinem 1932 uraufgeführten Volksstück als wirklichkeitsfremdes Klischee enttarnt. Was Frey daraus macht, ist ein schmerzhaft schönes, scharfes Sozialdrama über Krisenzeiten – und den sozialen Tod als Drohung.
Die klare Figurenregie spiegelt sich an diesem Abend in der Lichtregie, denn die Menschen, die hier in erschütterten Lebensverhältnissen zur Neuordnung gezwungen werden, sind kaum mehr als verlöschende Lichtreflexe im Halbdunkel oder Glühwürmchen, die verglühen. Am schmerzhaftesten zu beobachten bei der von Anna Drexler in ihrer berührend-trotzigen Naivität zum Niederknien gespielten Karoline, die am Ende allein in die tiefschwarze Weltnacht entschwebt. Kasimir, den Arbeiter, hat sie verlassen. Schürzinger, der Angestellte, hat sie verraten, und vom bürgerlichen Kommerzienrat Rauch wollte sie sich nicht benutzen lassen. Und nun? Ausweglosigkeit.
Das individuelle Schicksal ist in „Kasimir und Karoline“ soziales Urteil, nicht zuletzt: Klassenschicksal. Und mehr noch: Überall lauert Verrat, die Stimme des Herzens ist vergiftet von ökonomischer Kalkulation, die jedoch ins Leere läuft, wo Gewinner und Verlierer wie auf festen Plätzen im Kettenkarussell sitzen. Rasender Stillstand, Hoffnungslosigkeit, Untergang. „Die Liebe höret nimmer auf“ lautet das Motto des Stücks, und man weiß nicht, ob das Verhängnis oder Trost meint. Vielleicht beides. So gespenstisch wie an diesem im Gedächtnis bleibenden Theaterabend hat man die Wiesn in München wohl lange nicht gesehen – und dadurch so deutlich die Gegenwart.
„Lapidarium“, „Kasimir und Karoline“ und „Gschichtn vom Brandner Kaspar“ laufen am Residenztheater München
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