In „Was wir wissen können“ entwirft Ian McEwan eine Welt von apokalyptischer Kargheit: Der Roman spielt im Jahre 2119. Nach Klimakollaps und Atomkatastrophen steht dem einst stolzen Großbritannien das Wasser buchstäblich zum Hals; es ist zu einem Archipel geschmolzen, die Menschen leben mittelalterlich, die Geisteswissenschaften sind heruntergekommen zur belächelten Folklore an technisch geprägten Hochschulen.

Inmitten dieser Ruinen unterrichtet Thomas Metcalfe, einer der letzten Literaturprofessoren, über die Jahre 1990 bis 2030 – jene Zeit, da die Menschheit sehenden Auges ins Verderben steuerte. Seine Obsession gilt einem verschollenen Kunstwerk: einem formal komplexen Langgedicht, das der Dichter Francis Blundy im Oktober 2014 seiner Frau Vivien zum Geburtstag vortrug und das danach spurlos verschwand.

Dieser „Sonettenkranz für Vivien“ wird zum unauffindbaren Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Es gibt kein Manuskript, keinen Abdruck – nichts als Erinnerungen und Rekonstruktionen. So wird es zur perfekten Projektionsfläche für die Nachwelt und erwächst in Metcalfes Händen zum Symbol für alles, was unwiederbringlich verloren ist. Der Abend, an dem Blundy seine fünfzehn kunstvoll verschränkten Sonette vortrug, steigert sich in der Vorstellung der Nachgeborenen zur mythischen Tafelrunde – zum „Zweiten Unsterblichen Abendessen“.

Im Prinzip ließe sich die Vergangenheit minutiös rekonstruieren: In nigerianischen Rechenzentren – Nigeria ist nun Weltmacht – lagert das gesamte Wissen der Menschheit. Tagebücher, Chats, Suchverläufe liegen offen zutage. Doch McEwan hat sichtlich Spaß am Paradox: Je mehr wir wissen, desto weniger verstehen wir. „Wir haben der Vergangenheit ihre Privatsphäre geraubt“, heißt es einmal – und doch bleibt das Wesentliche verborgen.

Im zweiten Teil des Romans tritt Vivien selbst ins Zentrum, und das Bild kippt. Der gefeierte Dichter erscheint nicht mehr als prophetische Gestalt, sondern als eitler Blender, der die Natur besang, ohne sie zu lieben, und die Ehe poetisch schmückte, während er sie zugleich unterminierte. Der Sonettenkranz, so zeigt sich, war weniger Liebesbeweis als Pose – eine hohle Geste, die Vivien mit der Bürde der Nachwelt allein ließ. Ehebruch, Verrat und Selbsttäuschung durchziehen diesen Teil – als amüsantes Gesellschaftsdrama, aber auch als Spiegel des Umgangs der Menschheit mit ihrer Umwelt: zu viel Pathos, zu wenig echte Verbundenheit.

Damit knüpft McEwan an seine großen Werke an. Wie in „Abbitte“ spielt er mit Perspektiven und der Unzuverlässigkeit des Erinnerns. Wie in seinen politischen Romanen der letzten Jahre verbindet er private Schicksale mit den großen Fragen unserer Epoche. Dazu kommt eine späte Lust am Übertreiben: Morde, Intrigen, apokalyptische Szenarien – ganz schön dick aufgetragen, aber wirkungsvoll.

Die eigentliche Faszination liegt im doppelten Boden. Unter der beinahe barocken Handlung entfaltet sich ein philosophischer Roman über die Grenzen historischer Erkenntnis. Was bleibt, wenn alles gespeichert, aber nichts mehr verstanden wird? Welche Geschichten überdauern – die nüchternen oder die erfundenen? Metcalfe setzt auf Imagination: „Die Leichenhand akademischer Neutralität ließe diese historischen Personen vertrocknen.“ Seine Kollegin und Geliebte Rose besteht auf Fakten. Dazwischen bewegt sich der Roman und fragt, ob Geschichte ohne Fiktion überhaupt erzählbar ist.

McEwan beschwört unsere Gegenwart als verlorenes Paradies, über das künftige Generationen staunen, weil sie seine Selbstverständlichkeiten – Fußballstadien, Festivals, offene Landschaften – nie kennengelernt haben. „Was wir wissen können“ ist apokalyptische Science-Fiction, akademische Satire, Ehe- und Gesellschaftsdrama und literarische Meditation. Mit anderen Worten: eine Menge Holz, an die man sich klammern kann, wenn die Flut kommt.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 480 Seiten, 28 Euro

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