Tadeusz Kantor stellte Kunst und das freie Wort gegen Besatzung, gar gegen Terror und Tod. Der Sohn einer Katholikin und eines Juden führte während der Besatzung Polens durch die Deutschen im Untergrund eine Theatergruppe an. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelangte er als Theaterregisseur, Maler und Kunsttheoretiker von Krakau aus zu Weltruhm.

Kantor starb 1990. Seither wird sein Erbe von der sogenannten Cricoteka verwaltet, einem Museum samt Kantor-Archiv sowie Dokumentations- und Veranstaltungszentrum. Ob jedoch die Cricoteka heute im Sinne Kantors bereit ist, das freie Wort gegen Widerstände zu verteidigen, muss zumindest in Zweifel gezogen werden. Um das Kantor-Museum in Krakau hat sich dieser Tage eine Geschichte entsponnen, die beispielhaft zeigt, wie selbsternannte Aktivistengruppen offenbar nicht nur in Deutschland oder Großbritannien, sondern auch in Polen die Meinungsfreiheit bedrohen und wie Kulturinstitutionen bisweilen schon unter geringem Druck einknicken, vorauseilend Selbstzensur betreiben, den Konflikt scheuen und sich so selbst verstümmeln. Was ist geschehen?

In diesem Jahr erhielt die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller eine Einladung nach Polen. In Krakau sollte sie am 17. Oktober im Rahmen eines von der Cricoteka organisierten Rumänien-Festivals mit dem Titel „Gespenster der Vergangenheit“ auftreten, wenig später im schlesischen Katowice. Die rumäniendeutsche Schriftstellerin zögerte zunächst, sagte aber zu. Überzeugt hatte sie die Anwesenheit von Ada Milea, einer rumänischen Musikerin, die aus älteren Texten von Müller ein in Rumänien bereits ausgezeichnetes Theaterstück über die Angst in der Diktatur gemacht hat – eines der Lebensthemen Herta Müllers, die selbst unter der kommunistischen Diktatur in Rumänien gelitten hat und erst 1987 nach Westdeutschland ausgereist ist. Mileas Stück sollte in Krakau aufgeführt werden, Müller im Zuge dessen mit ihr diskutieren.

Was Müller nicht ahnte: Eine von ihr zuvor in der Königlichen Kunstakademie in Stockholm gehaltene Rede während des „The October 7 Forum“ sollte polnischen Aktivisten als Vorwand dienen, um Müllers Auftritt in Krakau zu verhindern, die Autorin zu „canceln“. Müller hatte in ihrer Rede mit dem Titel „Ich kann mir eine Welt ohne Israel nicht vorstellen“ die Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 klar verurteilt und sich gegen eine seitdem aufflammende antisemitische Stimmung in Europa gewandt.

Hinzu kam ein Interview, das Herta Müller WELT gab und das auch in der größten polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ erschien. Danach war die Literaturnobelpreisträgerin in Polen in aller Munde. Nachdem ihre Einladung nach Polen bekannt geworden war, warfen ihr polnische Aktivisten in sozialen Netzwerken nun vor, einen „Genozid“ zu verharmlosen. So sollte offenbar Druck auf die Cricoteka ausgeübt werden, den Auftritt der Nobelpreisträgerin abzusagen.

„Negative und hasserfüllte Kommentare“

Tatsächlich wandte sich daraufhin die Direktorin der Cricoteka, Natalia Zarzecka, in einer E-Mail am 6. Oktober persönlich an Herta Müller. Die E-Mail liegt WELT vor. Es handelt sich nicht um eine Ausladung Müllers, das bestätigen auf Nachfrage sowohl Zarzecka als auch die Nobelpreisträgerin. Sehr wohl aber liest sich die Nachricht – auch wenn sie in einem sehr freundlichen, zugewandten Ton gehalten ist –, als würde die Festivalleitung Herta Müller dazu bewegen wollen, ihrerseits abzusagen, um nicht selbst die Verantwortung für ein Scheitern der Veranstaltung zu übernehmen.

So hat Zarzecka mit Verweis auf „negative und hasserfüllte Kommentare“ in sozialen Netzwerken unter der Veranstaltungsankündigung angeboten, die Veranstaltung vorab in einem geschlossenen Raum in Krakau oder auch in Berlin aufzuzeichnen und während des Festivals auszustrahlen. Dass Herta Müller, die sich stets für freie Rede und gegen autoritäres Gebaren positioniert hat, ein solches Ansinnen als Einknicken verstehen und ablehnen würde, könnte sich Zarzecka bereits gedacht haben.

Herta Müller ist genau darüber zutiefst empört. WELT sagt sie: „Warum soll ich nach Krakau reisen, wenn die Direktorin die Verantwortung in der Sache auf mich abladen will?“ Und weiter: „Ich möchte diese Unterwerfung und diesen Angriff auf das freie Wort nicht stillschweigend hinnehmen.“ Müller hat nicht auf die Nachricht der Direktorin geantwortet. In Krakau war daher die Verunsicherung bis vor einigen Tagen groß. Erst seit dem 15. Oktober ist die Veranstaltung mit Müller als „abgesagt“ markiert.

In den vergangenen Wochen erregten immer wieder kleinere Demonstrationen und andere Aktionen „propalästinensischer“ und antiisraelischer Gruppen Aufsehen in Polen. So beteiligten sich etwa mehrere polnische Staatsbürger an der „Gaza Suada Flotilla“. Nach eigenen Aussagen wollten sie per Boot Hilfsgüter direkt nach Gaza bringen. Unter ihnen befand sich auch der polnische Parlamentsabgeordnete Franciszek Sterczewski. Nachdem er wie alle weiteren Teilnehmer der „Flotilla“ von israelischen Einheiten festgesetzt wurden und Sterczewski schließlich aus Israel abgeschoben wurde, behauptete er, vor Ort gefoltert worden zu sein und warf der polnischen Regierung vor, einen „Genozid“ in Gaza zu ignorieren. Dadurch wurde eine antiisraelische Stimmung in sozialen Netzwerken in Polen verstärkt.

„Es ist ein Konformitätsdruck entstanden“

Polens Außenminister Radoslaw Sikorski indes weist den Begriff „Genozid“ oder „Völkermord“ in diesem Zusammenhang zurück. Er spricht stattdessen von einer „Tragödie“. Diese Wortwahl wiederum führte dazu, dass eine Frau einen Auftritt von Sikorski im ostpolnischen Przemysl störte und von Sicherheitsleuten abgeführt werden musste. Danach kam es zu wütenden Online-Reaktionen, die von studentischen Milieus bis zu Rechtsradikalen schwappten. „Die Aktionen propalästinensischer Gruppen in Polen finden kaum Beachtung, werden aber teilweise von Rechtsradikalen, wie Politikern der Konfederacja, aufgegriffen, um sich antisemitisch zu äußern und gegen Israel Stimmung zu machen“, erklärt im Gespräch mit WELT Wojciech Przybylski, Direktor der renommierten Warschauer Denkfabrik Visegrad Insight. „Ein Beispiel dafür ist der jüngste Auftritt von Radoslaw Sikorski in Przemysl“, bestätigt er.

Er verweist darauf, dass mit dem Krieg in Gaza zu beobachten sei, dass sich die polnische Linke wie auch viele junge Leute mit Palästina solidarisch zeigen. Die propalästinensische Szene in Polen sei dennoch sehr klein, so Przybylski. In Warschau bringe sie vielleicht 200 oder 300 Personen auf die Straße. „Nur wenige Studenten sind aktiv, auch leben nur sehr wenige Palästinenser im Land.“ Umso erstaunlicher ist es, dass Hassnachrichten aus diesem Milieu bei der Cricoteka in Krakau Wirkung gezeigt und schließlich zur Absage einer Veranstaltung mit einer Nobelpreisträgerin geführt haben, die nicht einmal über Israel oder Gaza sprechen wollte. Experte Przybylski bezeichnet den Fall als „merkwürdig“ und verweist darauf, dass der Druck aus den entsprechenden Milieus in Polen eigentlich nicht groß sei und in der Regel starken Gegendruck von proisraelischen Gruppen erfahre, wobei propalästinensische Gruppen allerdings ausgerechnet in Krakau am stärksten organisiert seien.

Cricoteka-Direktorin Zarzecka verweist in ihrer Mail an Herta Müller auf „antiisraelische Proteste“ in Polen; sie sei in Sorge, dass es bei einem möglichen Auftritt von Müller zu „verbalen Attacken“ und dem „Zeigen von Bannern“ kommen könne. Weiter ist die Rede von Müllers Sicherheit und Wohlbefinden. Sie solle sich fragen, ob sie vor diesem Hintergrund immer noch nach Krakau kommen wolle. Die Sorge um Herta Müllers Sicherheit betont Zarzecka auch bei der Beantwortung eines Fragenkatalogs von WELT. Dort verweist sie zudem darauf, dass es 2022 schon mal zur Störung eines Auftritts in Krakau gekommen sei. Seinerzeit habe eine kleine rechtsextreme Gruppe den Auftritt einer ukrainischen Autorin gestört. Dass sich so was wiederholen könnte, war offensichtlich Zarzeckas Befürchtung.

Zur Absage ihrer Veranstaltung sagt Herta Müller: „Ich bin entsetzt darüber, dass so etwas auch in Polen möglich ist.“ Und: „Diese Leute, die Druck ausüben, haben das Denken abgelegt. Ich verstehe das nicht.“ Sie ärgere, dass eine Institution, die den Namen Tadeusz Kantor führe, ihre Inhalte nicht verteidige. „Diese Leute geben nach, es ist ein Konformitätsdruck entstanden, es ist vorauseilende Anpassung, Unterwerfung.“

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