Die Bedeutung eines Passes lernte Klaus Doldinger schon früh kennen. „Ich bin vom vierten bis zum neunten Lebensjahr in Wien aufgewachsen. Als die Russen 1945 vor der Stadt standen, wurde uns als sogenannten Reichsdeutschen sehr deutlich nahegelegt, dass wir die Stadt doch besser verlassen sollten“, schilderte er einmal in einem Interview eines der prägenden Erlebnisse seiner Kindheit.

Die Vertreibung aufgrund des Passes spielte aber auch aus einem anderen Grund eine entscheidende Rolle für den 1936 in Berlin geborenen Sohn eines Postmeisters. In Bayern, wohin Doldinger mit seiner Mutter und seinem Bruder geflohen war, hörte er zum ersten Mal jene Musik, die hinfort sein gesamtes Leben bestimmen sollte: Jazz, gespielt von amerikanischen GIs.

Die Lebensfreude, die der treibende Swing der Soldaten vermittelte, wirkte so ansteckend, dass der junge Doldinger in der Folge eine doppelte musikalische Staatsbürgerschaft hatte. In Düsseldorf, wo er seine Schulzeit verbrachte, wurde er mit elf Jahren am Robert-Schumann-Konservatorium aufgenommen und erhielt als talentierter Klarinettist und Pianist eine Aufenthaltsgenehmigung im Reich der Klassik.

Parallel aber nahm er sein Sopransaxofon, das er einem Musikclown abgekauft hatte, und spielte inspiriert von seinem Vorbild Sidney Bechet in verrauchten Clubs und Kneipen. Im Düsseldorfer Altstadtlokal „Csikos“ traf er bei den Sessions auf den späteren Literaturnobelpreisträger Günter Grass, der leidenschaftlich das Washboard schrubbte.

Noch zu Schulzeiten schloss sich Doldinger der erfolgreichen Dixieland-Band „The Feetwarmers“ an (in der Manfred Lahnstein, später einmal Bundesminister der Finanzen, Posaune spielte) und gründete seine erste eigene, nach Oscar Peterson benannte Gruppe „Oscar‘s Trio“. Diese Formation war Doldingers Pass für die große weite Welt des Jazz. Beim Jazzfestival in Brüssel gewann „Oscar‘s Trio“ den ersten Preis; eine große amerikanische Getränkemarke fand Doldingers Jazz-Version von „Muss i‘ denn zum Städtele hinaus“ so originell, dass sie ihn 1960 in die USA einlud. Dort trat der junge Deutsche nicht nur in den Sehnsuchtsorten der improvisierten Musik auf, sondern wurde auch noch gleich zum Ehrenbürger von New Orleans ernannt.

Doldinger spielte inzwischen Tenorsaxofon, das globale Signature-Instrument des modernen Jazz. Mit dem Horn gelang ihm etwas, das nur den ganz Großen vorbehalten ist: Er entwickelte einen eigenen Ton, an dem man ihn schon nach wenigen Noten erkennen konnte. Und obwohl Doldinger zeitweise als der „schwärzeste“ unter den deutschen Saxofonisten galt, schwangen in seinen souligen und raumgreifenden Linien auch stets die Nachdenklichkeit und Melancholie des alten Europa mit.

Er hatte seit seiner Zeit am Konservatorium schon immer eine gewisse Neigung zu den europäischen Komponisten aus der Zeit der Romantik, erklärte er in einem Gespräch zu seinem 80. Geburtstag mit der WELT, und auch im Kanon des Jazz seien es die Balladen und das Bluesige gewesen, was ihn am meisten angesprochen hätte.

Anfang der 1960er-Jahre entwickelte sich Doldinger zum Aushängeschild des jazzenden Nachkriegsdeutschland und bewies, dass ein deutscher Pass nicht zwangsläufig ein Makel sein muss. Die bezeichnenderweise „Doldinger – Jazz Made in Germany“ getaufte Platte seines neuen Quartetts kam unter dem Titel „Dig Doldinger“ 1963 sogar auf den US-amerikanischen Plattenmarkt, was nach damaligen Maßstäben eine Sensation darstellte. Nachfolgende Albumnamen wie „The Ambassador“ (1969) waren mitnichten Koketterie – der vom Goethe-Institut in aller Herren Länder geschickte Saxofonist mit dem Diplomatenausweis zeigte in Südamerika, Asien und Afrika, wie lässig die Bundesrepublik Deutschland sein kann.

Unterhaltungsmusik unter Pseudonym

Klaus Doldinger bezeichnete sich immer als Glückskind, dem vieles einfach so zufiel. Dafür tat der umgängliche Wahl-Bayer, der ab 1968 in Icking bei München lebte, aber auch einiges. Im Gegensatz zu vielen seiner deutschen Jazzkollegen stellte er sich als Bandleader, Komponist und Produzent breit auf. Er absolvierte ein Musikwissenschafts- und Tonmeisterstudium und richtete sich ein eigenes Studio ein. Die Verschleißarbeit als auf Abruf stehender Gebrauchsmusiker in den vergnügungssüchtigen Nächten der jungen Bundesrepublik machte er ein halbes Jahr, dann hatte er genug davon.

Wenn er dann mal leichte, aber schwer verkaufsträchtige Unterhaltungsmusik dudelte, gab er dafür nicht den Namen her, der auf seinen Ausweisdokumenten stand. Unter dem Pseudonym Paul Nero spielte Doldinger Platten mit Titeln wie „Classics à la Twist“, „Abends in der Cocktailbar“ oder „Bubble Gum Party“ ein, für einen Liveauftritt im Hamburger Star-Club setzte er sich eine Sonnenbrille und eine alberne Langhaarperücke auf, um unerkannt zu bleiben.

Ein cleverer Schachzug. Anders als bei den anderen talentierten nachkriegsdeutschen Nachwuchsjazzern, die wie Max Greger oder Paul Kuhn Jahrzehnte später ein wenig reumütig zu ihren Wurzeln zurückkehrten, verband man den Namen Doldinger nie mit seichter Tanzmusik oder Schlager. Und das, obwohl er der Komponist des Milva-Hits „Hurra, wir leben noch“ war oder für die Sängerin Claudia Jung Nummern schrieb.

Dass so ziemlich jeder Bundesbürger über 30 schon einmal – möglicherweise unwissend - etwas von dem Jazzsaxofonisten gehört hat, verdankt sich Doldingers unermüdlicher Komponistentätigkeit für Film, Fernsehen und Werbung. Unter seinen 2000 Stücken befinden sich unter anderem das Jingle zur Einführung des deutschen Farbfernsehens, Werbeclip-Untermalung für „Fa“-Seife oder „Persil“-Waschmittel, die Filmmusiken zu „Das Boot“ oder „Die Unendliche Geschichte“, die Vorspannklänge zu TV-Serien wie „Liebling Kreuzberg“ oder „Wolffs Revier“ sowie – als wohl bekanntester Doldinger-Evergreen – die markante Erkennungsmelodie des „Tatort“.

Seit 1970 eröffnet sie Deutschlands beliebtestes TV-Krimi-Ritual. Im Laufe seiner Komponisten-Karriere, die ihn für 24 Jahre in den Gema-Aufsichtsrat führte und auch symphonische Werke umfasste, wurde Klaus Doldinger so zu einem der größten Dienstleistungs-Ohrwurmlieferanten Deutschlands.

Er warf sich in die Fusion-Welle

Die längste Beziehung neben der zu seiner Frau Inge, die er 1960 heiratete, führte der Saxofonist mit einer Band, die Weltläufigkeit und das Wissen um die eigene Herkunft im Namen trug: Mit der 1971 gegründeten Formation Passport, auf deren Debütalbum der gemalte BRD-Reisepass des Bandleaders prangte, warf sich Doldinger in die seinerzeit im Jazz hochschwappende Fusion-Welle. Und das höchst erfolgreich: Die Platten der Gruppe, in deren ersten Ausgabe Udo Lindenberg Schlagzeug spielte, stiegen in die US-Charts ein und führten zu ausverkauften Konzerten im Mutterland des Jazz.

Auch nach Abebben des Jazzrock-Hypes blieb Doldinger seiner Herzensangelegenheit treu, spielte bis zuletzt Konzerte mit der stets fabelhaft besetzten Band und ließ sich immer wieder von den fremden Kulturen inspirieren, die er auf seinen internationalen Tourneen kennenlernte. So kam es, dass auch brasilianische oder nordafrikanische Elemente in die zwischen Funk, Rock, Jazz und Pop changierende Passport-Mixtur einflossen.

Geehrt mit unzähligen Auszeichungen

Für seinen unermüdlichen und disziplinierten Einsatz im Namen der einprägsamen Melodie wurde der Saxofonist mit so ziemlich jeder Auszeichnung geehrt, den es in Deutschland für verdiente Musiker gibt: Bundesverdienstkreuz, Grimme-Preis, Goldene Kamera, Bayerischer Fernsehpreis, Echo Jazz. Das Land wusste, was es an seinem Botschafter hatte, der trotz verlockender Karrierechancen nie nach Amerika ging. Er hing an seiner Heimat und schätzte die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, die sie ihm bot.

Jetzt ist Klaus Doldinger, der bodenständige Weltbürger, dorthin gegangen, wo man keinen Pass braucht. Er wurde 89 Jahre alt.

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