Am Ende des Kafka-Jahres, also irgendwann im Januar, konnte es einem passieren, dass man aus unruhigen Träumen erwachte. Man hatte die Serie von David Schalko und Daniel Kehlmann gesehen und im Kino „Die Herrlichkeit des Lebens“, Georg Maas’ und Judith Kaufmanns Film über Kafkas letzte Liebe zu Dora Diamant, war in Prags Kafka-Museum gewesen, seinen Spuren in der Stadt gefolgt, hatte Millionen von Wörtern über Kafka und in der absurden Zeit zwischen den Jahren auch noch die unerlässliche Biografie von Reiner Stach gelesen.

Man fühlte sich vielleicht nicht in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt, aber wenn man sich erinnerte an all die postkafkanischen Nachtmahre, die einem da begegnet waren, dann fügte sich das Ganze vielleicht zu einem Schachteltraum, der „Franz K.“, Agnieszka Hollands Kafka-Biopic-Verweigerungsbiopic, doch ziemlich nahekommt.

Und man erwischte sich bei der Idee, dass man einem Dichter, der sein Leben, seinen Alltag, seine Gegenwart in eine literarische Phantasmagorie verwandelte, filmisch am nächsten kommt, wenn man sein Leben, seinen Alltag, seine Gegenwart, seinen Nachruhm und alles, was kam, als er schon tot war, ebenfalls in eine Phantasmagorie verwandelt.

Eine Warnung zwischendurch. „Franz K.“, der Polens Kandidat für den Auslands-Oscar wurde, ist ein Kafka-Kaleidoskop, in das man besser nicht ohne Vorbildung schauen sollte. Was Holland – als Kafka-Expertin einschlägig bekannt, seit sie den „Prozess“ fürs polnische Fernsehen verfilmte, 45 Jahre ist es her – veranstaltet, versteht in den feinen Verästelungen seiner Symbolspuren kein Kafka-Anfänger vollständig.

Das macht aber nichts. „Franz K.“ langweilt die schwer verträumten Kafka-Aficionados wenig und reicht jenen, die es werden wollen und sollen, die Hand für eine Expedition ins schmale Werk und das kurze Leben des vielleicht folgenreichsten aller Literaten des 20. Jahrhunderts.

Im Auge des Lärms

Es ist – bis auf die Dora-Diamant-Geschichte, die man nachlesen oder nachschauen kann („Die Herrlichkeit des Lebens“ läuft bei einem Großteil der Streamer) – eine Art Bildmonografie. Das chronologisch wild verschachtelte Stationendrama eines ziemlich spindeldürren jungen Mannes, der im Durchgangszimmer seiner Familie versucht, Literatur zu schreiben. Er sitzt – schmal, blass, sorgfältig gekleidet in Anzug und mit Krawatte – im Auge des Lärms.

Einen Schnitt später sperrt der Vater, Peter Kurth ist Kafkas Erzeuger, ein Mann, wie man ihn sich als Adressat des legendären Briefes immer vorgestellt hat, ein bei lebendigem Leib fossilierter Patriarch, ein animalisches, kapitalistisches Triebtier, den kleinen Franz auf den Balkon. Soll der Mannwerdung dienen.

Und während Hermann mit seiner Gattin den Sexualakt vollzieht (anders kann man es nicht nennen), verliert sich Klein-Franz in Graphic-Novel-Träume. Holland interessiert sich – das hat sich bis hierher vielleicht schon abgezeichnet – übrigens nicht die Bohne für Chronologie. Die Zeiten schießen munter durcheinander. Der Franz steigt in seiner Prager Arbeiter- und Unfallversicherungsanstalt in den Paternoster, gleitet vorbei an Szenen seines Werkes und landet in einem Kafka-Museum, das es so – zumindest in Prag – gar nicht gibt.

Vielleicht machen wir an dieser Stelle kurz eine Pause. Und versuchen, die Bausteine zu beschreiben, aus denen Agnieszka Holland ihr Vexierspiel zusammengesetzt hat. Augenzeugenberichte zum Beispiel – immer wieder schauen sie uns an, Ottla, Kafkas Lieblingsschwester, der Onkel auf dem Land, der Organist in der Synagoge, und erzählen von Franz, die vierte Wand hat Holland zum Einsturz gebracht.

Szenen aus dem Alltag – wie Franz, ein spindeldürrer bleicher Kerl, der nur aus Muskeln und Knochen zu bestehen scheint, halb nackt Gymnastik macht am offenen Winter-Fenster, bis es der Mutter zu kalt wird und sie es kommentarlos schließt, wie er aus- und wieder einzieht, wie er am Esstisch sitzt und jeden Bissen gut drei Dutzend Mal kaut, bis der Vater schreit.

Ein paar biografische Fixseile, ohne die Hollands Biografie-Fantasie auseinanderfallen würde – die Kuraufenthalte, die Ver- und Entlobung mit Felice, die sinnliche Erweckung mit Milena. Mit Max Brod ist er im Bordell und diskutiert während der Kopulationsvorbereitungen über Gott, Kierkegaard und den ganzen Rest. Mit Ottla ist er im Kino und lacht. Man sieht Brod, wie er Kafkas Manuskripte verbrennt, was ihm Franz für den Fall seines Ablebens aufgetragen hat, bis Holland zurückspult und er alles wieder in einen Koffer packt.

Man sieht Brod, wie er den Koffer vor den Nazis rettet. Man sieht Ottla mit Judenstern auf dem Weg zu ihrer Ermordung. Zwischendurch zauselt Holland sanfter, als man das könnte, die Kafka-Merchandising-Maschine, von der Prag gegenwärtig lebt wie vom Bier, dem Burgberg und dem jüdischen Viertel.

Idan Weiss ist mehr Kafka als alle Kafkas vor ihm

Touristen werden von skrupellosen Führern in eine (fiktive) Kafka-Burger-Bar geführt. Essen wie Kafka soll das sein, aber der war magersüchtig und Vegetarier. Und während Kafka in der Moldau schwimmt, stehen gegenwärtige Kafkanier aus Fernost am Ufer, kaufen Kafka-Handtücher und legen sich gegen gutes Geld auf jenes Stück Ufergrün, auf dem Kafka nach dem Schwimmen auch immer in der Sonne lag. Zwischendurch wird es ungemütlich und Holland führt am Beispiel von Kafkas „Strafkolonie“-Geschichte vor, wie man seine Literatur perfekt in Kino überführen kann.

Das hüpft vor und zurück wie die Echternacher Springprozession. Das lebt vom schmalen Gesicht des Idan Weiss. Der ist Kafka mehr als alle Kafkas vor ihm, eine ideale Projektionsfläche, ein Staunender, ein Fremder, nah am Lachkrampf gebaut. Ein moderner Mensch. Man weint im Kino. Man staunt. Und fängt daheim an zu lesen.

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