Diese Geschichte ist wieder mal eine, bei der man gewaltig Gefahr läuft, sich in einem Metaphernwald zu verlaufen. Ungefähr so groß wie das alpine Gehölz, das jenes Luxus-Resort am oberbayerischen Wetterstein umstellt, in dem „Zugzwang“ angesiedelt ist, der neue und viertletzte Fall für die „Tatort“-Legenden Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl).
Es geht, da muss man kein großer Stratege sein, ums Schachspielen. Und dass man am Ende, wenn der Mörder mattgesetzt, aber nichts eigentlich aufgeklärt ist, mit einem klaren Remis in den späteren Sonntagabend geht, kommt so:
Batic und Leitmayr setzen – man könnte fast meinen, ihr Münchner Kommissariat sei wegen Umbauarbeiten für ihre Nachfolger unbewohnbar – ihre Ausflüge ins Umland fort. Das letzte Mal hatte man sie auf einen Truppenübungsplatz geschickt und mitten in eine Nato-Übung. Da war es erwartbar grässlich. Die Bilder waren sehr stark, aber ein bisschen grünstichig.
Die Lichter jener Nacht in den Bergen, mit der „Zugzwang“ beginnt, sind hingegen geradezu magisch. Irgendwann später scheint ein Magrittescher Mond überm Wetterstein. Schnee fällt, Nebel wallt. Man sieht ein Leuchten in der Kommissare Augen, dass sie endlich mal da arbeiten dürfen, wo die Millionäre Urlaub machen (und sich die G 20 treffen) – näher als in „Zugzwang“ wird die hartarbeitende Bevölkerung dem Schloss Elmau („escape. unwind. recharge“), das im „Tatort“ als „Ammer Krone“ firmiert, ziemlich sicher nie kommen.
Magische Nacht am Wetterstein
Man kann nicht behaupten, die Regisseurin Nina Vukovic und der Kamerazauberer Clemens Messow hätten nicht alles versucht, jenes Damengambit, das sich Robert Löhr hat einfallen lassen, so brillant aussehen zu lassen, wie es vielleicht gar nicht ist. Aber wir greifen vor. In der magischen Nacht am Wetterstein stürzt – gerade hat sie noch zu einer Champagnerflasche gegriffen – Lilit Kayserian in den Tod am Pool.
Die ist Schachgroßmeisterin. In der „Ammer Krone“ ist sie aber vor allem die Assistentin, das Hirn und die Geliebte von Natalie Laurent. Die wiederum – eine geradezu durchsichtige Erscheinung mit Neigung zu transparenten Blusen – ist die einzige Frau im Feld derjenigen, die im Kandidatenturnier vor Millionen YouTubern und ein paar handverlesenen Aficionados vor Ort um die Ehre spielen, den Schachweltmeister herausfordern zu dürfen.
Ein umgekehrter Turm liegt neben der Leiche. Sie wird nicht die einzige bleiben. Das vielzügige Drama von Robert Löhr, am Brett mit den 64 Feldern einschlägig vorbelastet durch seinen Roman „Der Schachautomat“, bewirbt sich in der Folge als Gegenkandidat der Netflix-Serie „The Residence“ für den Agatha-Christie-Award. Geschlossener Raum, überschaubare Anzahl von Verdächtigen mit einer ebenfalls durchaus überschaubaren psychologischen Tiefe, aber ziemlich großer Karikaturhaftigkeit.
Als da wären: ein amerikanischer Topgroßmeister, der seine Haartracht und seine Klamotten aus einem Humana-Laster bezogen zu haben scheint, ein undurchsichtiger Hotelmanager (das glatte Gegenteil des Elmau-Chefs und -Gründers Dietmar Müller-Elmau), der gern an die Spitze des Schachweltverbands käme. An der wiederum Kamran Hasanov sitzt, der mit einer geradezu teppichhändlerhaften Chuzpe alle um sich herum so lange mit Armenierklischees bewirft, bis die sich ins Unterholz zurückgezogen haben.
Das Unterholz ist übrigens der einzige Ort, wo es am Wetterstein Netz gibt, weswegen die Ermittler immer mal wieder an die frische Luft kommen. Natalie Laurent, die natürlich auch zu den Verdächtigen zählt – der umgekehrte Turm und ihr glattgeschminktes Gesicht zieren den Titel eines Schachmagazins, das vielleicht einmal zu häufig in die Kamera gehalten wird – dient bei alldem als Katalysator. Ihre Anwesenheit lässt all das auflodern, was mehr oder weniger unterschwellig unter dem Brett schwelt, das für viele die Welt bedeuten.
Misogynie, Machtgier, Erpressung, Betrug, Neid. Alle, die „Damengambit“ nicht gesehen haben, werden in relativ zähen Erklärbärdialogen auf Stand gebracht. Die Leidenschaft für und das Leid an den 32 Figuren wird ausführlich erklärt. Wer bis dahin noch keine Lust auf Rochaden und die Pirc-Ufimzef-Verteidigung hatte, bekommt auch keine. Das würde Löhr und Vukovic selbst trotz eines Plots, dessen Spielverlauf man doch mindestens drei Züge im Voraus ahnt, zu einem umkämpften Schachmatt verhelfen, gäbe es da nicht diese babylonische Sprachverwirrung.
Weil halt die Schachwelt international ist, wird gern Englisch gesprochen. Und weil wir nicht in der Schweiz sind, wo jede „Tatort“-Figur ohne Rücksicht auf ihre Herkunft auf Hochdeutsch synchronisiert wird, gibt es dafür Untertitel. Was erfahrungsgemäß ein Einschaltquotenkiller und ein bisschen lustig ist, weil man sich schon fragen kann, warum eigentlich ein deutscher Schauspieler (Maximilian Befort), der einen amerikanischen Großmeister spielt, beim Verhör Englisch reden und dann synchronisiert werden muss.
Während eine französische Schauspielerin (Roxane Duran), die eine französische Großmeisterin spielt, auf Deutsch befragt wird. Und ein armenischer Schachoberbonze armenisch reden darf mit seinen Bodyguards (von denen einer ein deutscher Schauspieler ist mit iranischen Wurzeln) – ohne jegliche Untertitelei.
Am Ende nimmt die Hercule-Poirot-Geschichte James-Bond-Züge an. Es gibt Hochleistungsgift und Schüsse und allzu menschliche Verwirrungen. Wäre alles nicht passiert hätte man Deep Blue und Hydra aufeinander losgelassen.
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