Erinnerung ist nicht nur das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, sondern auch die einzige Schreckenskammer, in die wir lebenslang eingesperrt sind. Die Untaten, die Verwundungen, die Niederlagen, die Schmerzen zeugen sich im Erinnern von Generation zu Generation fort. Wenn nun die Frauenkirche in Dresden das 20-jährige Jubiläum ihrer Wiederauferstehung feiert, so ist es dieser Doppelcharakter von Erinnerung, der dieses Ereignis überhöht.
Bauwerke sind steinerne Zeugen der Geschichte. Sie werden zu Mahnern der Geschichte, die kein Eingriff, keine Manipulation und wohl nicht einmal ihre Zerstörung zum Schweigen bringen kann. Dafür steht die Frauenkirche. Selten in der Geschichte ist ein Bauwerk so sichtbar und so unbezweifelbar weit über seinen Standort hinaus zu einem Anker der Erinnerungskultur geworden. Selten wurde es über die ganze Dauer seiner Existenz derart mit Geschichte und Bedeutung aufgeladen. Selten hat es in solcher Intensität weit über seinen Standort hinaus so tief, so nachhaltig und so maßstabsetzend in die Gesellschaft hineingewirkt.
Man hat die Frauenkirche die Seele Dresdens, Dresdens Herz, ja den „Petersdom der Protestanten“ genannt. Wenn man sich heute, 20 Jahre später, noch einmal die Gästeliste der Kirchenweihe am 30. Oktober 2005 vergegenwärtigt, erscheint dieses Aufgebot noch immer fast unwirklich. Anwesend waren drei deutsche Bundespräsidenten, der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine designierte Nachfolgerin Angela Merkel, die Kirchenhäupter aller Konfessionen, aus Großbritannien der Herzog von Kent – ein Aufgebot über Partei-, Staats- und Konfessionsgrenzen hinweg, wie es vielleicht noch nie einem einzelnen Gebäude zuteilgeworden war.
Stellt man sich daneben den Dresdner Ratszimmermeister George Bähr vor, der seinen Bau mit einer Statik projektiert hatte, die vorher nie ausprobiert worden war und zu seiner Zeit architektonischen Kollegen als unbaubar erschien, und der sich dafür persönlich so hoch verschuldete, dass die Legende wissen will, er habe sich noch vor dessen Vollendung von der Kuppel in den Tod gestürzt, so wird die ungeheure Kluft zwischen Triumph und Tragik deutlich, die dieses Bauwerk von Anbeginn umgibt.
1945, am 15. Februar, zwei Tage nach dem Dresdner Feuersturm, der zehntausende Menschen in den Tod riss, war die ausgebrannte Kirche wie von allein donnernd in sich zusammengestürzt. Aber das Mysterium, dass sie umgibt, begann schon bei ihrer gotischen Vorgängerin, einem bescheidenen Kirchlein mit Friedhof, das der Mutter Maria geweiht war und damals noch außerhalb der Dresdner Stadtmauern stand.
Als Jahrhunderte später dann August der Starke, Sachsens Kurfürst, seiner Residenzstadt den Rücken kehrte, zum Katholizismus übertrat und König von Polen wurde, unterstützte er kräftig den Bau der neuen Kirche, um sie seinen Landeskindern gleichsam als Unterpfand seiner dauernden Anwesenheit zurückzulassen. Dabei gab er der Kirche noch einen letzten, entscheidenden „Schliff“. Statt der runden Kuppel Bährs sollte sie eine gestreckte, glockenförmige, sich noch höher über die Dächer der Stadt emporreckende Kuppel erhalten.
Kaum war der Kurfürst weg, entbrannte der Streit. Baumeister Bähr beharrte darauf, die Kuppel nicht, wie üblich in Holz, sondern in Stein auszuführen. Aber die Kollegen zeterten, sie werde über den Köpfen der Gemeinde zusammenbrechen. Und doch war es dann gerade diese Bauweise, die die Kanonade Friedrichs des Großen auf die Stadt überstehen sollte. „Dann lasst doch den alten Trutzer stehen“, soll der König gegrollt haben.
Es muss die Imposanz des Bauwerks sein, die es selbst noch als Trümmerberg mit einer magischen Aura aufgeladen hat. Zwei hochaufragende Mauerstrümpfe waren stehen geblieben – zwischen ihnen erhob sich der gewaltige Steinhaufen. Das Bild erschien vielen wie eine Metapher nicht nur für den Untergang Dresdens, sondern für den Zusammenbruch des 1000 Jahre alten Reiches und seine Teilung in zwei Staaten, die keine gemeinsame Mitte mehr hatten. Die DDR wollte daraus ein Mahnmal zum „Kampf gegen imperialistische Barbarei“ machen, die Dresdner hielten an der kirchlichen Widmung der Stätte und an der – damals noch irreal erscheinenden – Rekonstruktion der Kirche fest.
Hier ereignete sich 1982 das bis dahin Unvorstellbare. Seit diesem Datum, immer wieder in Verbindung mit dem unseligen 13. Februar, dem Tag der Zerstörung der Stadt, versammelten sich vor der Ruine zur Stunde des nächtlichen Bombenangriffs alljährlich Jugendliche aus den Reihen der Jungen Gemeinde zu nicht genehmigten Gedenkriten mit Kerzen und Gesängen, umlauert von Männern in Trenchcoats, den Spitzeln der Stasi. Es waren die ersten geheimen Kundgebungen gegen den SED-Staat seit dem 17. Juni 1953 – der früheste Aufbruch jener Oppositionsbewegung, die dieses Staatswesen sieben Jahre später zur Aufgabe zwingen sollte.
1985, wiederum am 13. Februar, nach der Wiedereröffnung der Semperoper, war die erst noch kleine, heimlich verabredete Gruppe zu einer tausende Köpfe zählenden Menge angewachsen. Sie trugen Kerzen und Blumen an den Trümmerberg, Helmut Schmidt und Ernst Albrecht, der westdeutsche Kanzler und der Präsident des Bundesrates als Repräsentanten des anderen deutschen Staates, in der Mitte. Während Honecker und die Seinen im Hotel Bellevue die Gläser klingen ließen, standen sie hier im Nachtdunkel unter dem Läuten aller Dresdner Glocken stumm wie in einer gesamtdeutschen Verschwörung zusammen, noch die Worte des Landesbischofs Johannes Hempel in den Ohren: „Es lastet, es blutet, dass zwei deutsche Staaten entstanden sind.“
Viereinhalb Jahre später, am 19. Dezember 1989, sollte dann Helmut Kohl genau an diesem Ort unter Fackeln, wehenden Deutschlandfahnen und dem von tausenden Demonstranten skandierten Ruf „Wir sind ein Volk!“ die deutsche Einheit beschwören. Die Wucht dieser Bilder hat Geschichte geschrieben.
Immer wieder haben vor der Frauenkirche, deren Wiederaufbau die für heutige Großprojekte fast lachhafte Summe von 131,3 Millionen Euro gekostet hat, von denen 101 Millionen durch Spenden aufgebracht wurden, Politiker und Würdenträger Bekenntnisse abgelegt – auch Barack Obama 2009. Die Fotos gingen damals um die Welt. Dass zuvor auch ein Wladimir Putin die wiederaufgebaute Kirche allein und inkognito ohne Vorankündigung aufgesucht hatte, ist erst jetzt bekanntgeworden. Offenbar 2006 sei es gewesen, erinnert sich der Baudirektor der Frauenkirche, Eberhard Burger. Er habe im Kirchenraum gesessen, als ihm der Dienstmann ganz aufgeregt gemeldet habe: „Der Herr Putin steht vor der Tür.“
Burger berichtet: „Ich bin rausgegangen zum Haupteingang, da stand Herr Putin unten an der Treppe und sagte zu mir: ‚Herr Burger, darf ich reinkommen?‘ Und dann habe ich eine halbe Stunde mit ihm ganz alleine im Kirchenraum verbracht und habe ihm alles erklärt, habe ihm von dem Wiederaufbau erzählt und von der Unterstützung, die wir erhalten haben. Und natürlich sind wir auch auf die Ikonografie und die Ausgestaltung der Frauenkirche gekommen, und ich war erstaunt, dass er sich in der Theologie, den christlichen Darstellungen sehr gut auskannte und dass man ihm das nicht erklären musste, was was ist, sondern dass er das einfach wusste. Wenn ich ihn heute im Fernsehen sehe, dann muss ich sagen, er hat sich auch im Aussehen sehr verändert und seine Haltung ist eine total andere, gegensätzlich zu der, die ich damals wahrgenommen habe. Und ich hoffe nur, dass er doch vielleicht zu mehr Menschlichkeit zurückfindet.“
Erinnern ist ein für viele Menschen schwieriger Begriff geworden. Und doch lehrt das Beispiel des so symbolbefrachteten Bauwerks Frauenkirche über alle Gräben hinweg, wie unverzichtbar, wie heilsam und weltverändernd wahres und schonungsloses Erinnern ist. Im Erinnern richtet die Geschichte ihre großen Wegmarken auf. Als eine solche Wegmarke, als ein von niemandem so geplantes, sich selbst erklärendes Erinnerungszeichen für die deutsche Wiedervereinigung, lässt sich die wiederaufgebaute Frauenkirche verstehen.
Um die Geschichtsmächtigkeit derartiger Vorhaben hat der Dichter Joseph Görres schon vor zweihundert Jahren gewusst. In seinem berühmten Aufruf zur Vollendung des Kölner Doms, des anderen großen deutschen Geschichtszeugen, fand er Worte, die auch für die Dresdner Frauenkirche gelten können: „In seiner trümmerhaften Unvollendung, in seiner Verlassenheit ist er ein Bild gewesen von Teutschland seit der Sprach- und Gedankenverwirrung, so werde er denn auch ein Symbol des neuen Reiches, das wir bauen wollen.“
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