Nelle Harper Lee, geboren 1926 in Monroeville, Alabama, ist auch neun Jahre nach ihrem Tod noch eine geheimnisvolle Autorin. Gleich drei Rätsel sind es, vor die sie die Literaturgeschichtsschreiber stellt.
Erstens: Wie konnte diese junge Frau quasi aus dem Nichts ein so formvollendetes Buch wie „Wer die Nachtigall stört“ schreiben, einen der Romane des amerikanischen Südens schlechthin und auf Jahrzehnte so etwas wie Amerikas Lieblingsbuch? Zweitens: Welchen Anteil hat sie, die ihren Sandkastenfreund Truman Capote zur Recherche nach Holcomb, Kansas, begleitete, an dessen Meisterwerk „Kaltblütig“, mit dem der New Journalism und, von heute aus betrachtet, die True-Crime-Literatur begann?
Und drittens: Wie kann es sein, dass diese Autorin, die um 1960 plötzlich im Epizentrum der amerikanischen Literatur auftauchte, danach beinahe genauso plötzlich wieder verschwand? Tatsächlich ist Harper Lee auch deshalb ein Mythos, weil sie nach der „Nachtigall“ nie wieder etwas Brauchbares schrieb, obwohl sie in ihrer New Yorker Wohnung noch jahrzehntelang mit ihrem Writers’ Block rang.
Monroeville, Maiben, Maycomb
Genau dort, 433 East 82. Straße, irgendwo zwischen East River und Metropolitan Museum, wurden nach ihrem Tod vier der acht Erzählungen entdeckt, die jetzt unter dem Titel „Das Land der süßen Ewigkeit“ zum ersten Mal überhaupt erscheinen. Vier weitere wurden in den vergessenen Beständen ihrer Agentur gefunden, die beigebundenen Essays und Artikel des Bandes hingegen sind altbekannt und auch nicht halb so interessant.
Denn zur Lösung der Harper-Lee-Rätsel tragen sie wenig bei – ganz anders als die Storys, die alle vor der „Nachtigall“ entstanden sind und damals wohl mit einigem Recht unveröffentlicht blieben, weil sie entweder Schritte vom Wege oder aber solche zur „Nachtigall“ sind, einem Roman, der, wie sich herausstellt, keineswegs aus dem Nichts kam, sondern auf den sich seine Autorin ein ganzes Jahrzehnt lang zubewegte und den sie nach diesen Storys auch nicht einmal, sondern zweimal schrieb: Die erste – unversöhnlichere, vielleicht ehrlichere, jedoch weit weniger formvollendete – Fassung ist unmittelbar vor Harper Lees Tod unter dem Titel „Geh hin, stelle einen Wächter“ erschienen.
Die frühen Storys – unter anderem deshalb datierbar, weil Harper Lee die Absagen diverser Zeitschriften aufhob – folgen einmal mehr ihrer Biografie: Die erste – „Der Wassertank“ – erzählt von einem Mädchen, das aus „Maiben“ aka Monroeville erst noch ausbrechen muss, die Protagonistin der letzten hingegen, der Titelgeschichte, ist schon eine, die mit gemischten Gefühlen zurück in die alte Heimat kommt, nicht mehr nach „Maiben“, sondern nach „Maycomb“, wie Monroeville dann auch in der „Nachtigall“ heißt.
Scout Finch und die Fifth Avenue
Überhaupt: Der Zauber des Südens ist ein Zauber der Namen und manche davon lassen Harper Lee nicht mehr los: Es braucht vier Seiten, bis eine „Louise Finley“ auftaucht und keine 20, bis der „Code of Alabama“ im Regal des Anwaltsvaters steht. In der Erzählung „Die Zickzackschere“ heißt dieser Daddy schon „Finch“ – so wie Atticus Finch, der Übervater der „Nachtigall“, später im Kino die Prägerolle des Gregory Peck. Aus den vielen Louises aber wird Jean Louise Finch werden, die Scout genannte Heldin der „Nachtigall“. Ist sie es bereits, die in der Titelgeschichte nach Maycomb zurückkehrt? Es könnte ebenso gut Harper Lee selbst sein, der es in 60 New Yorker Jahren nicht gelang, sich von Monroeville zu lösen.
Entsprechend wenig hat sie von New York zu erzählen, wo Harper Lee allenfalls dann einen Ton findet, wenn die Rede wie durch Zufall auf eine „Alabama-Clique“ kommt. Die scharfzüngige, ungebärdige Harper Lee ist hier weit besser zu hören als in der „Nachtigall“, New York aber fühlt man, nur weil mal ein Psychiater erwähnt wird, leider noch nicht.
Tatsächlich fällt in der Erzählung „Ein Zimmer voller Futter“ ein so witziger wie verräterischer Satz. „Früher oder später“, steht da, „trifft man auf der Fifth Avenue jeden Menschen, den man jemals kannte.“ Er könnte erklären helfen, warum Harper Lee nur dieses eine Buch schrieb. Denn es kommt ja darauf an, was man auf der Fifth Avenue sieht.
Harper Lee: „Das Land der süßen Ewigkeit“. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. Penguin, 208 Seiten, 25 Euro.
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