Gutshaus, Dorfkirche, Dorfteich: Alt-Britz gehört zu jenen gar nicht so seltenen Ecken Berlins, an denen die Moderne fast spurlos vorübergegangen zu sein scheint. Doch nun entsteht hier ein Laboratorium der Zukunft. Einer Zukunft, die sich paradoxerweise an der Vergangenheit orientiert. Auf einem Doppelgrundstück lässt die landeseigene Wohnbaugesellschaft „Stadt und Land“ zwei im Grundriss identische fünfgeschossige Wohnbauten mit je 18 Mietwohnungen bauen. So weit, so alltäglich. Aber der eine Bau entsteht als Holzbau, der andere als monolithischer Ziegelbau. In beiden Häusern wird Lehmputz eingesetzt. Daher der Name des Pilotprojekts: „Holz Ziegel Lehm“.

Mit diesem Doppelprojekt, das von der Arbeitsgemeinschaft ZRS Architekten und Bruno Fioretti Marquez entworfen wurde und von der TU Berlin, der TU Braunschweig und der Universität Stuttgart wissenschaftlich begleitet wird, soll untersucht werden, „wie viel CO2 durch die Verwendung von ökologischen Baustoffen im Vergleich zu konventionellen Materialien“ wie Stahl und Beton „bei eingehaltenen Anforderungen des Wärme-, Schall- und Brandschutzes eingespart werden kann“, wie es auf der Website von „Stadt und Land“ heißt. Auf dem flach geneigten Satteldach ersetzen Solarpaneele die Dachziegel, für Heizung und Warmwasser sorgen zwei Wärmepumpen.

„Wenn es um CO₂ geht, hat wahrscheinlich Holz eine bessere Bilanz“, vermutet Architektin Vera Reimann, die mich über die Baustelle führt; „bei der Dauerhaftigkeit vermutlich die Ziegelbauweise“. So enthält ein Container die Ziegel eines alten Schuppens, der bislang auf dem Grundstück stand; sie werden als Schmuckelemente des neuen Ziegelbaus eingesetzt. „Wir lernen viel von den Gründerzeitbauten“, den von modernen Städtebauern verschrienen und abgerissenen, von postmodernen Bürgern liebevoll restaurierten sogenannten Mietskasernen, die bis heute das Bild der Berliner Innenstadt bestimmen.

„Lernen“ gehört zu Reimanns Lieblingsworten: von den Chefs über die Architekten, Ingenieure und Wissenschaftler bis hin zu den Handwerkern müssen alle lernen, mit den neu-alten Materialien sinnvoll umzugehen. Innenwände etwa, für die heute gern Gipskarton benutzt wird, werden im Ziegelbau aus nichttragenden Ziegeln hochgezogen, im Holz-Lehmbau aus gepresstem Stroh: feuerfest und angeblich stabil genug, um einen Hängeschrank anzudübeln. Manche Architektenwünsche scheiterten auch an Vorschriften. So ließ die Feuerwehr keine Holztreppen zu, sie sind also aus Beton, unökologisch, aber ziemlich unzerstörbar; und vor die Außenwand des Holzhauses – Holzplatten, gedämmt mit Holzwolle – muss ebenfalls aus Feuerschutzgründen eine ästhetisch gewöhnungsbedürftige und ökologisch fragwürdige Aluminiumfassade gehängt werden.

Da die Gebäude atmen sollen, um Schimmelbildung zu vermeiden, und ohne teure und energieverschwendende Lüftung auskommen, haben alle Bäder Außenfenster. Geradezu ein Luxus heutzutage, zumal im sozialen Wohnungsbau. (Sechs der 36 Wohnungen sind Mietern mit Wohnberechtigungsschein vorbehalten.) Schön sind auch die Loggien mit gemauerter – oder mit eben aluminiumverkleideter – Brüstung und Einbaunische für die vielen Dinge, die doch auf dem Balkon abgestellt werden, und die Douglasien-Dielen, unter denen sich eine Fußbodenheizung befindet.

Auf andere Dinge müssen künftige Mieter verzichten. Auf eine abgetrennte Küche etwa und auch auf große Möbel, denn die Dreizimmerwohnungen sind 66,4 Quadratmeter klein, womit auf jeden Bewohner 21 Quadratmeter kommen, etwa die Hälfte des in Berlin üblichen Raums. Dafür sind sie so geplant, dass Wohngemeinschaften oder große Familien zwei Wohnungen mittels eines Mauerdurchbruchs leicht zusammenlegen können. Aus ökologischen Gründen wurde außerdem auf Keller und Tiefgarage verzichtet – hier hätte, um Feuchtigkeit zu verhindern, massiv Beton zum Einsatz kommen müssen. Auch Autoabstellplätze gibt es nicht, dafür überdachte Fahrradboxen.

So dürfte diese Wohnanlage ihre eigenen künftigen Bewohner selektieren: Menschen, die das Gefühl genießen, ökologisch korrekt zu leben und die nichts dagegen haben, Teil eines Feldversuchs zu sein; die es gut finden, dass die verwendeten Materialien sichtbar bleiben, die tragenden Balken im Holzhaus etwa oder die Deckenziegel im Ziegelhaus; dass Materialoberflächen und Fugen nicht mit Putz und Plastik zugeschmiert werden; und dass man eben für sein Lastenrad Platz hat, aber für das Auto einen Parkplatz um die Ecke suchen muss. „Wir glauben, Kreuzberg wächst hierhin“, scherzt Vera Reimann.

Das wird so sein. Die Flucht vor Gentrifizierung und Touristen, die Suche nach Schulen, in denen Deutsch sprechende Kinder nicht die Minderheit sind und nach etwas Grün, das nicht von Junkies und ihren Dealern als Fixerstube und Toilette missbraucht wird, sorgen dafür, dass der Trend zur Urbanisierung längst in ihr Gegenteil gekippt ist. Der Vorort wird wieder schick.

Im Herbst sollen die Wohnungen bezugsfertig sein – gerade einmal drei Jahre nach Einreichung des Bauantrags. Schon jetzt melden sich Interessenten, obwohl der künftige Mietpreis noch gar nicht feststeht. Alt-Britz, wo heute vor allem die Wagen mobiler Pflegedienste das Straßenbild bestimmen, steht vor einem Kulturschock.

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