Einem Boxer ist über Nacht ein Brokkolikopf gewachsen, wo sonst seine Schlagfaust war. Eine junge Frau wacht auf, und ihr toter Ex steht bei ihr und ihrem Mann im Schlafzimmer. Eine andere fällt auf dem Weg zum Flughafen ins Meer, klammert sich an ihrem Rimowa-Koffer fest, darin das Marihuana, das sie ihrem Idol schenken wollte. Aber dann tauchen Außerirdische auf, die „ihr Leben scannen“ wollen, um zu verstehen, wie bei Erdenbewohnern Altruismus funktioniert. Sie versprechen, ihr dafür einen Lieblingswunsch zu erfüllen – ihr fällt lange keiner ein.
So geht das dahin in den Geschichten der 1990 geborenen südkoreanischen Autorin Lee Yuri, deren Debüt nun in deutscher Übersetzung erscheint. Ein paar Zeilen lang scheint alles so alltäglich wie ein ganz normaler Dienstagmorgen, dann kippt es. Das Ungeheuerliche platzt herein, ohne Ankündigung und dramatische Musik. Kein Vorhang hebt sich, kein Effekt wird aufgebaut. Lee Yuris Geschichten tun so, als erzählten sie bloß, was ohnehin passiert. Aus der Asche eines toten Vaters wächst ein Baum, der reden kann und immer dringlicher verlangt, dass man mit ihm spazieren geht. Ein Mädchen wird durchsichtig. Tote setzen sich zu einem ins Auto und wollen zu dem Ort gefahren werden, an dem sie gestorben sind – „Ich schätze, ich werde keinen Sicherheitsgurt brauchen“, sagen sie, ehe es losgeht. Ein Junge, dick, in der Schule gemobbt, kann sich mit Steinen unterhalten. Irgendwann hat er einfach angefangen, sie anzusprechen, mancher antwortet ihm.
Lauter Verwandlungen, die jäh in die Existenz grätschen. Danach ist zwar alles im Leben so radikal anders, wie für den Büroangestellten Gregor Samsa, der eines Morgens als ungeheures Ungeziefer erwacht. Doch anders als bei Kafka bringt das in Lee Yuris Geschichten niemanden aus der Fassung. Die Heimgesuchten nehmen das Unfassbare zur Kenntnis, mehr nicht. Der Mann mit der Brokkolihand wird zum Arzt gebracht, der ihm unaufgeregt „Chlorophyllhemmer“ verschreibt, und wird in die Berge geschickt, wo er singen soll, um geheilt zu werden. Es fällt ihm bloß die Nationalhymne ein, aber sie hilft. Der Baum, der mal ein Vater war, lernt eine andere Pflanze kennen, die mal eine Frau gewesen ist; die Zweige verschlingen sich, ein Baby wird geboren. Und der tote Wiedergänger verschwindet wieder.
Kurze, klare Sätze, keine Dramatik, keine Spur von Exaltiertheit. Ein vom Einbruch des Irrealen unbeeindruckter Berichtston, als würde jemand den Weltuntergang mit der Sachlichkeit eines Wettermelders notieren. Dieser Ton macht den Witz der Texte aus – und ihre Beunruhigung.
Wenn Körper unzuverlässig werden
Lee Yuris Figuren ähneln einander. Sie sind ein bisschen verloren im Leben, einzelgängerisch, antriebsschwach in einer Gesellschaft, die ununterbrochen funktioniert, aber nicht weiß, wofür. In dieser Welt werden Körper unzuverlässig: Sie schwellen an, verformen sich, verschwinden, lösen sich auf. Spricht daraus ein Unbehagen mit der eigenen Gestalt? Oder die Sehnsucht, endlich keine Grenzen mehr zu haben?
Vielleicht sind diese Metamorphosen Allegorien für Entfremdung und Einsamkeit in der südkoreanischen Gegenwart. Vielleicht auch schlicht für Erschöpfung – für ein Leben im Dauerzustand der Reizüberflutung. In Korea ist die Fantastik weiblich geworden, seit die große Generation der Nachkriegsschriftsteller abgetreten ist: Jüngere Autorinnen wie Kim Ae-ran, Pyun Hye-young, Chung Serang oder eben Lee Yuri erzählen das Irreale mit der Ruhe von jemandem, der längst akzeptiert hat, dass das Reale selbst nicht mehr verlässlich ist. Der magische Realismus Lateinamerikas war ein Aufstand gegen Kolonialismus und Vernunft. Der postrealistische Ton Koreas ist stiller, resignativer. Lee Yuris Geschichten sind gewissermaßen müde Träume: Sie erzählen von Menschen, die nicht mehr überrascht sind, dass alles sinnlos geworden ist. Diese Gelassenheit macht den literarischen Reiz aus. Lee Yuris Fantastik ist eine Methode, über das Reale zu sprechen, ohne sich ihm zu unterwerfen.
Es ist wohl kein Zufall, dass viele ihrer Figuren Frauen sind. In ihnen verdichten sich Körperlichkeit, Anpassungsdruck, Selbstauflösung und die vage Hoffnung auf eine andere Form des Daseins. Sie werden durchsichtig, verwachsen sich, verlieren ihre Konturen – genau darin liegt eine leise Revolte. Nicht die große Geste, sondern das Verschwimmen der Form wird zum Widerstand.
Was soll das alles? Man weiß es nicht, und man wird es nie erfahren. Aber genau darin liegt das Vergnügen: im unaufgeregten Staunen, dass die Gesetze des Gewöhnlichen nur eine Frage des Tons sind. Vielleicht ist das alles Allegorie. Vielleicht ist es nur ein Spaß, mit dem Lee Yuri zeigen will, was Literatur wirklich ist – eine Maschine, in der von einem Satz zum nächsten alles, wirklich alles passieren kann. Und niemand sich wundert, wenn aus der Asche ein sprechender Baum wächst, der einfach sagt: „Komm, wir gehen spazieren.“
Lee Yuri: Broccoli Punch. Storys. Aus dem Koreanischen von Tamina Hauser. Kanon Verlag, 212 Seiten, 23 Euro.
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