Früher war mehr Papier, und wie raumgreifend Papier war, bezeugt ein Blick ins Büro von „Spex“-Redakteur Diedrich Diederichsen, das – ostentativ mit Magazinen, Zeitungsseiten und sonstigen Schnipseln vermüllt – Papier in Messie-Mengen zum Gegenwartsanzeiger machte: Ich lese, also bin ich (auf der Höhe der Zeit). Bezeichnend für die Präsenz von Gegenwart im vordigitalen Raum auch das Phänomen, wie anschmiegsam sich journalistische Geschichten weiland auf aufgeschlagenen Heftseiten darboten – etwa Christian Krachts „Tempo“-Reportage von 1991 über einen Spring-Break-Exzess.
Beide Bilder sind in „Gegenwart machen. Eine Oral History des Popjournalismus“ von Erika Thomalla enthalten. Die Professorin für Buchwissenschaft und digitale Buchkultur an der LMU München hat sich auf Forschungen zum Literaturbetrieb spezialisiert. Ihr hervorragend bebilderter Reader betrachtet Stadt-, Musik- und Zeitgeistmagazine von den späten 1970ern bis in die 2000er-Jahre. Organe wie „Szene Hamburg“, „Zitty“, „Prinz“, „Sounds“, „Spex“, „Tempo“, später auch das „Süddeutsche Zeitung Magazin“, „jetzt“, „Neon“, „Der Freund“, „Vanity Fair“ lassen sich als soziale Kunstwerke lesen, denn sie haben während ihrer meist kurzen Blütezeit Lebensstile und Schreibszenen definiert. Ganz nebenbei haben diese Magazine etliche später namhafte Schriftsteller, Journalisten und Blattmacher sozialisiert, darunter Christian Kracht, Rainald Goetz, Maxim Biller, Diedrich Diederichsen, Giovanni di Lorenzo, Markus Peichl, Ulf Poschardt, Moritz von Uslar, Rebecca Casati, Johanna Adorjan, Eckhart Nickel.
90 Zeitzeugen – prominente wie weniger prominente, exponierte wie hinter den Kulissen tätige – hat Thomalla befragt und dabei ein beachtliches Aufgebot an Stimmen eingefangen. Geschenkt, dass es in manchen Statements auch um retrospektive Selbststilisierung geht, entscheidend ist die Vielstimmigkeit, die den diversen Magazinen Konturen gibt. „Die Zeitschrift war eine Drehtür zwischen Journalismus und Literatur“, gibt etwa der Autor Peter Glaser über „Tempo“ zu Protokoll, und von Christian Kracht und Eckhart Nickel erfährt man in vertrauter ‚Arbeit am Mythos‘-Attitüde, dass beide, Jahrgang 1966, bereits 1985 einen 19-Punkte-Plan mit Projekten für ihr Leben gefasst haben: „Eigentlich waren das alles Fluchtpunkte, um der verhassten Erwartbarkeit zu entkommen: zum Beispiel eine Akademie oder eine Eisenbahngesellschaft gründen, eine Bar oder ein Hotel am anderen Ende der Welt eröffnen und so weiter. Einer der neunzehn Pläne war die Herausgabe einer Zeitschrift.“ Daraus wurde dann 20 Jahre später die Zeitschrift „Der Freund“ (2004 bis 2006), wie ein gutes Enzensberger-Projekt von Anfang an temporär geplant.
Thomalla erkundet mit „Gegenwart machen“ ein Terrain, das von der Medien- und Literaturwissenschaft vergleichsweise selten kartiert wurde. Der Feuilletonforscher Erhard Schütz hatte den Trend neuer „Autoren zwischen Journalismus und Belletristik“ bereits 1998 unter dem Stichwort „Journailliteraten“ skizziert und auf die Erneuerung der Gegenwartsliteratur durch den Magazinjournalismus hingewiesen – auch, weil Zeitschriften Textkulturen jenseits des Mainstreams definieren und kreieren – ein bisschen so wie heute, in einer zunehmend illiteraten Gesellschaft, auf TikTok. Oder wie einer von Thomallas Zeitzeugen zu Protokoll gibt (Lorenz Schröter): „Stadtmagazine waren, genauso wie Fanzines, eine Möglichkeit, das direkte, beleidigende und persönliche Schreiben auszuprobieren: die Ich-Perspektive, die im etablierten Journalismus nicht erlaubt war und um die man sich dort oft herumgeschummelt hat. Der Autor ist ja nicht der liebe Gott, der die objektive Wahrheit verkündet.“
Natürlich wurden aus manchen Ich-Sagern selbst kleine Götter, aber der Impuls zu einem stärker subjektiven Journalismus, der sich mehr erlaubt als bloße Informationsvermittlung und Meinungsmache, war ein Desiderat (Helge Timmerberg): „‚Tempo‘ war das erste richtige Magazin, das New Journalism in Deutschland machte.“
Als vorteilhaft erweist sich, dass Thomalla ihren Begriff von „Popjournalismus“ nicht exakt ausbuchstabiert, ihr weites Verständnis reicht vom insiderischen Musikjournalismus bis zur kurzen, schillernden Existenz der deutschen „Vanity Fair“, vom „Tempo“-Vorläufer „Wiener“ bis zur „Titanic“, die als Satireheft eigentlich ein völlig anderes Feld bespielt, aber in der Position der Distanz zu den etablierten Medien den anderen Magazinen doch verwandt ist.
Zeitschriftenmachen anno dazumal
Ein paar wenige Leerstellen in Thomalls Kompendium fallen auf. So fehlen ostdeutsch sozialisierte Stimmen wie Alexander Osang, die einen spezifischen Reporter-Sound ausgeprägt haben. Und den „Berliner Seiten“, dem auf Zeitungspapier bedruckten, kreativen Hauptstadt-Supplement der „FAZ“ zwischen 1999 und 2002, hätte dieser Katalog ruhig auch ein eigenes Kapitel widmen können. Aber klar, es geht eigentlich um Zeitschriftenjournalismus. Insgesamt ist das Kompendium dennoch überzeugend, es steckt für spätere Generationen auch voller versteckter wertvoller berufsethnografischer Details über das Zeitschriftenmachen („Klebeumbruch“).
Was alle vorgestellten Magazine in dieser letzten Epoche eines noch dominant papierenen Journalismus eint, war, dass sie sich als Ausdruck spezifischer Zeitgeist- und Lebensstil-Ideen sahen, die viel mit Selbstverwirklichung (und weniger mit medial betreuter Selbstfindung wie heute) zu tun hatten. Einfach ausprobieren, unbescheiden sein und im Zweifel das Große klein und das Kleine groß machen, das war die Devise, die Zeitschriften damals noch schillern und Scouts von Verlagen neugierig schauen ließ, welche Schreibtalente da denn nachwuchsen. Streitbar, aber bezeichnend dazu Maxim Biller: „Wir waren die Avantgarde, und das sind wir leider immer noch. Junge Journalisten von heute interessieren sich nämlich gar nicht fürs Schreiben.“
Erika Thomalla: Gegenwart machen. Eine Oral History des Popjournalismus. Schöffling & Co, 256 Seiten, 36 Euro.
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