Der französische Publizist und Philosoph Pascal Bruckner setzt sich seit der Verhaftung von Boualem Sansal im November letzten Jahres unermüdlich für dessen Freilassung ein. Im Sommer hat er gemeinsam mit dem Strategiespzialisten François Heisbourg den deutschen Botschafter in Paris aufgesucht und Berlin um Vermittlung gebeten. Er dankt jetzt ausdrücklich Deutschland.

WELT: Monsieur Bruckner, was war Ihr erster Gedanke, als Sie von der Begnadigung von Boualem Sansal erfahren haben?

Pascal Bruckner: Spontan habe ich gedacht: Na endlich! Aber diese Entscheidung kommt zu spät. Man hätte Sansal nach ein, zwei Monaten freilassen müssen, weil er alt und schwerkrank ist. Meine zweite Reaktion ist: Vielen Dank Deutschland! (im Original auf Deutsch). Zum Glück haben wir Euch als Freunde, sonst hätten wir es nie geschafft und Sansal wäre im Gefängnis verfault.

WELT: Warum war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier der richtige Vermittler, warum hatte er Erfolg mit seiner Forderung nach Begnadigung?

Bruckner: Weil er sehr viel Intelligenz bewiesen hat. Er war schon im Amt, als der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune in Berlin im Krankenhaus behandelt wurde. Daran hat er in seiner Botschaft erinnert, indem er gesagt hat, er hoffe, dass Präsident Tebboune wieder gesund werde. Das heißt, er hat die Verhältnisse einfach umgekehrt: Nicht mehr Sansal ist der Kranke, dem geholfen werden muss, sondern Tebboune. Tebboune ist alt und hat auf ganzer Linie versagt.

„Meloni wollte ihren Benzintank nicht verlieren“

WELT: Inwiefern?

Bruckner: Weil er sich mit seiner Erpressung Frankreichs nicht durchsetzen konnte. Der UN-Sicherheitsrat hat mit seiner Abstimmung vor zwei Wochen Algeriens Niederlage in der Affäre um die Westsahara besiegelt. Die Chinesen und die Russen haben Algerien im Stich gelassen. Selbst Donald Trump hat sich eingemischt.

WELT: Nicht nur Deutschland hatte einen Trumpf im Vergleich zu Frankreich, auch Italien hatte diesen. Warum hat sich kein anderer Europäer, allen voran die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni, für die Befreiung Sansals stark gemacht?

Bruckner: Weil sie ihren Benzintank nicht verlieren wollte. Sie wird von Tebboune bewundert und rühmt sich regelmäßig, sehr gute Beziehungen zu ihm zu haben. Deshalb habe ich sie in einem Brief, den „Il Folgio“ veröffentlicht hat, aufgefordert, sich für Sansal einzusetzen. Aber Meloni hätte nie ihren engen Draht mit Algier wegen eines Schriftstellers aufs Spiel gesetzt, den sie nicht kennt.

WELT: War Sansal eine politische Geisel?

Bruckner: Das war er ganz eindeutig, eine Geisel im franko-algerischen Konflikt.

WELT: Warum ausgerechnet er, ein alter Mann?

Bruckner: Weil er ein Dissident ist. Weil er den Islamismus verabscheut. Weil er den Islamismus als Verlängerung des Nazismus bezeichnet hat, was nicht vollkommen falsch ist. Er war das ideale Opfer. Wenn morgen Kamel Daoud nach Algerien zurückkehrt, würde er auch sofort verhaftet werden. Algerien ist ein wunderschönes Land, aber ich rate keinem Franzosen, es zu bereisen.

WELT: Inwiefern ist die Begnadigung Sansals dank deutscher Hilfe eine Demütigung für Frankreich?

Bruckner: Das ist in der Tat eine ganz gezielte Demütigung der ehemaligen Kolonialmacht. Algerien ist unser schlechtes Gewissen. Konservative wie Linke werden davon wie von einem Gespenst verfolgt. Es ist das alte Schluchzen des weißen Mannes. Wir fühlen uns immer noch schuldig, anstatt Klartext zu reden. Macron hätte das als junger Präsident, der nach der Entkolonialisierung geboren wurde, leisten können. Aber er hat versagt, er hatte nicht den Mut. Er hat mir mehrfach gesagt, dass die Befreiung Sansals für ihn absolute Priorität habe. Zuletzt im September bei einem Abendessen im Élysée hat er mir vor 30 Gästen versichert, dass er sich darum kümmert und mich aufgefordert, weniger laut aufzutreten. Ich möge Tebboune nicht verärgern und besser still sein. Darauf habe ich ihm geantwortet, dass es sich in dem Fall um die berühmte Grabesstille handele. Die Klappe zu halten, ist keine Strategie.

WELT: Warum ist das Verhältnis zwischen Paris und Algier so verpestet?

Bruckner: Weil Algier seine Dekolonisierung nicht abgeschlossen hat. In der algerischen Nationalhymne ist Frankreich immer noch der Feind. Als würden wir morgen mit Panzern vor der Tür stehen. Die Wahrheit ist, dass die Algerier noch immer in der Koloniallogik feststecken. Das ist bedauerlich. Sie sind in ihren Köpfen Franzosen geblieben. Ich fordere sie seit 40 Jahren auf, uns endlich zu vergessen. Es ist vorbei, wir sind nicht mehr Herren dieses Landes! Sie sind jetzt die Bosse, aber sie können sich nicht emanzipieren. Deshalb bin ich für eine radikale Eiszeit zwischen beiden Ländern. Wir brauchen Algerien nicht.

WELT: Macron wollte, als er 2017 ins Amt kam, wirklich etwas verändern und eine Versöhnung mit Algerien erreichen, er hat einen aufwendigen Bericht in Auftrag gegeben, sogar von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen. Was hat er falsch gemacht?

Bruckner: Macron ist der Gehörnte in dieser Geschichte. Er hat sich in seiner Analyse getäuscht, indem er die französische Kolonialzeit in Algerien mit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs gleichgesetzt hat. Das ist nicht dasselbe. Die Kolonialmächte haben schreckliche Verbrechen verübt, aber das ist nicht zu vergleichen mit dem, was die Nationalsozialisten verbrochen haben. Ich plädiere seit 30 Jahren dafür, dass Frankreich offiziell um Verzeihung bittet, worauf die Algerier ihrerseits eine Gewissensprüfung unternehmen und Rechenschaft über ihre eigenen Verbrechen während des Unabhängigkeitskrieges ablegen müssten. Macron hat das nicht gewollt. Er hat Kamel Daoud gesagt, das sei zu leicht. Aber das ist ganz und gar nicht leicht. Irgendwann in der Geschichte kommt der Punkt, wo man einen Kassensturz machen muss. Macron wollte das nicht, er zog es vor, weiter in der Wunde zu bohren. Der Bericht des Historikers Benjamin Stora, den er in Auftrag gegeben hat, war totaler Unsinn. Das las sich wie eine Liste von Jacques Prévert: Der eine gibt mehrere Schädel zurück, der andere eine Kanone. Man hätte radikal sein und ein Schnitt machen müssen: Wir haben eine gemeinsame Geschichte, aber die Kolonialmacht ist 1962 abgezogen. Unsere gemeinsame Geschichte ist vorbei.

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