Herbert Blomstedt ist unglaubliche 98 Jahre alt – und, als immer noch aktiver Dirigent, eine lebende Legende. 1927 kam er als Kind des schwedischstämmigen Adventisten Adolf Blomstedt und der Pianistin Alida Thorson in Springfield, Massachusetts zur Welt. Er wuchs in Finnland und Schweden auf und gab als Geiger früh Konzerte. Das Dirigieren lernte er auf der Juilliard School in New York.

Neben diversen skandinavischen Orchestern leitete er die Staatskapelle in Dresden, das San Francisco Symphony Orchestra und als Nachfolger von Kurt Masur sieben Jahre lang das Leipziger Gewandhausorchester. Legendär sind seine Bruckner-Einspielungen und seine Sibelius-Aufnahmen mit dem San Francisco Symphony. Bücher sind Blomstedts zweite große Leidenschaft im Leben. Er besitzt rund 35.000 Bände, darunter so wertvolle, dass er den Großteil seiner Sammlung kürzlich der Universitätsbibliothek von Göteborg gestiftet hat.

Dort füllen die zum Teil jahrhundertealten Bücher (die Blomstedt akribisch mit Karten versehen hat, auf denen neben der Bibliografie und einer Kurzzusammenfassung auch steht, wo er die Bände erworben hat) fast eine ganze Etage. Unsere kleine Reise durch die Lektüren seines Lebens beginnt mit einem Reprint der Gutenberg-Bibel, die Blomstedt bis heute in seinem schwedischen Landhaus bei Örebro im Schrank hinter dem Flügel aufbewahrt.

Die Bibel

Meine erste Begegnung mit Literatur war ein Schauspiel auf der schwedischen Schule in Helsinki. In der ersten Klasse. Das klassische Weihnachtsspiel. Eine Geschichte von Zacharias Topelius. Der war einer der wichtigsten Historiker Finnlands, hat aber auch Geschichten für Kinder geschrieben. Das Stück hieß „Der Vogel Blau“. Ich spielte da mit. Lesen konnte ich schon mit sechs, was meinen Lehrern ein bisschen Angst machte, die dachten, dass ich mich schnell langweilen würde (das Abitur absolvierte ich dann auch zwei Jahre vor meinen Schulkameraden). Alles, was man lesen konnte, fand ich wahnsinnig interessant. An ein Kinderbuch zu Hause kann ich mich allerdings nicht erinnern. Aber an die Bibel.

Mein Vater war ja Pastor und Theologe. Und die Bibel war ein Teil unseres Tagesablaufs. Beim Frühstück hat mein Vater immer eine kleine Geschichte aus der Bibel gelesen. Dann haben wir haben das Vaterunser gebetet. Das alte Testament war dabei für mich viel interessanter als das neue. Jesus fand ich gar nicht so spannend, Josef in Ägypten schon. Der wurde mein Idol. Diese Aufstiegsgeschichte aus dem Abseits – das hat mir enorm imponiert. Und dann Daniel – seine Haltung, und wie er es wagte, seine Standpunkte zu verteidigen und gerade nicht zu machen, was von ihm gefordert wurde. Ich bin von Kindheit an gewohnt, alleine und anders zu sein. Das habe ich vielleicht nicht unbedingt genossen, aber es war (und es blieb) Teil von meiner Existenz, meines Wesens. Joseph und Daniel waren meine Brüder im Geiste.

Rudolph Simonsen: Sub specie aeternitatis

Das ist jetzt eine ganz besondere Geschichte. Das geht zurück in meine Jugend in Finnland. Mein Vater war zum Leiter der Adventistischen Kirche in Finnland ernannt worden. Da hatte ich einen Schulkameraden, der mit mir Schach spielen wollte. Eigentlich wusste ich, dass es keinen Sinn hat, denn es würde mich vom Musizieren abhalten. Ich fragte meinen Vater, was ich tun sollte. Mit ihm hatte ich ein gutes Verhältnis, ich bewunderte ihn, aber ich wusste schon, was er sagen würde. Dass Schach keine Sünde wäre, sagte er. Aber dass es mir Zeit für die Geige rauben würde.

Wenn du, sagte mein Vater, eine solche Wahl vor dir hast, dann sollst du dich fragen: Hat es Ewigkeitswert? Das fand ich damals natürlich viel zu hochtrabend – einem Zehnjährigen so etwas wie Ewigkeitswert abzuverlangen! Aber dann bekam ich auf der Schule als Preis dieses Buch. „Sub Spezies Aeternitatis“ (in Anbetracht der Ewigkeit) ist ein Satz von Spinoza. Kein bedeutendes Buch vielleicht, aber Simonsen war Rektor der Musikhochschule von Kopenhagen, Schüler von Carl Nielsen, Bronzemedaillengewinner bei den Olympischen Spielen 1928 für seine zweite Sinfonie und sicher ein feiner Musiker. Wahrscheinlich habe ich das Buch gar nicht gelesen. Aber sich nach dem Ewigkeitswert dessen zu fragen, was man tut oder vielleicht tun will, das hat mich schon geprägt.

Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen

Die Geschichte mit Carl Philip Emanuel Bach hängt mit einem Stipendium zusammen. Das waren 7000 Kronen, viel Geld damals. Eigentlich für ein Jahr im Ausland. Ich hatte die Musikalische Akademie gefragt, ob ich das Geld nicht für vier, fünf Sommerkurse aufteilen könnte. Und so kam ich nach Salzburg zum Mozarteum (und zum Unterricht mit meinem Vorbild Igor Markevitch). Da war Eberhard Preußner, Rektor. Preußner hat ein kluges Buch über die bürgerliche Musikkultur geschrieben. Darin widmet er sich dem „redenden Prinzip“. Das hat er nicht erfunden.

Die Anfänge dazu stehen in Carl Philipp Emanuel Bachs „Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen“. Und wenn ich heute einem Orchester erklären will, was ich meine, was ich möchte, dann ist es genau das: Spielen wie man spricht. Das Verstehen ermöglichen. Nicht nur die Noten spielen, sondern eine Rhetorik in Gang bringen. Ein Gespräch. Einige Töne sind halt wichtiger als andere. Man muss so natürlich spielen, wie man redet, wie man singt. Das hat dann natürlich Einfluss auf die Melodie. Die Tradition mit dieser redenden Art zu musizieren prägt Orchester wie das Leipziger Gewandhaus und die Dresdner Staatskapelle bis heute. Die haben aber auch ständig mit Sängern zu tun.

Herman Melville: Moby Dick

Als ich 25 war, bekam ich ein Stipendium von der „Swedish American Foundation for International Studies in America“. Da bin ich dann hingeflogen. Erste Klasse. Völlig verrückt damals. Die hatten viel Geld und wollten Studenten in die amerikanische Kultur einführen. Das war dann Upstate Hudson River. Anderthalb Stunden von New York. Wir waren drei Wochen zusammen. Von den Vorlesungen ist mir vor allem der „Moby Dick“ in Erinnerung geblieben. Das solle man unbedingt lesen, wurde uns gesagt. Das sei ein ganz wichtiges Buch. Was ja ganz lustig ist, weil der Roman gar nicht so berühmt war zu Melvilles Lebzeiten.

Mir schien die Geschichte vom Ahab und seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem weißen Wal ein schönes Symbol für Amerika zu sein. Für die Auseinandersetzung mit dem Bösen. Für den Wahn in allen Nuancen. Wir besuchten damals übrigens auch einen Bildhauer, dessen Atelier irgendwo im Wald war. Der liebte klassische Musik. Als wir ankamen, spielte er das Requiem von Berlioz im Wald. Da dachte ich, Amerika kann keine ganz schlechte Nation sein. Später haben wir dann noch Eleanor Roosevelt besucht. Die hat uns sehr freundlich aufgenommen und durch ihr Haus geführt. Sie war ein bisschen hässlich, aber sehr warmherzig und klug.

Leo Tolstoi: Was ist Kunst?

Tolstoi war eine sehr wichtige Entdeckung. Ich habe ihn immer sehr bewundert. Er war ja auch Vegetarier. Das heißt aber nichts. Die Vegetarier, die ich kenne, sind nicht immer sehr klug. Ich bin Vegetarier, weil ich es hasse, Tiere zu essen. Ich kann das nicht aushalten. Aber ich bin nicht Vegetarier, um 100 Jahre alt zu werden. Und ich kenne wunderbare Leute, die gesund sind und Fleisch essen, Wein trinken und rauchen. Aber das nur nebenbei. Das Buch „Was ist Kunst“ habe ich – in deutscher Übersetzung – in Dresden entdeckt.

Und Tolstoi sagt darin, um es kurzzufassen, sehr wichtige Sachen. Ein Musiker, um zu überzeugen, müsse zeigen, dass er ein Sucher ist und nicht nur ein Finder. Ist er nur ein Finder, dann ist er vielleicht ein guter Lehrer. Vielleicht auch ein guter Propagandist. Aber ein guter Künstler ist er nicht. Er muss zeigen, dass er das Perfekte in der Musik sucht. Es zu finden, gelingt nicht immer. Das Suchen aber darf nicht aufhören. Wer sucht, ist auch bescheiden. Wer meint, schon gefunden zu haben, kann unerträglich sein. Man muss Selbstvertrauen haben, auch Stolz, ohne das kann man nicht existieren. Aber man muss auch wissen, dass es Grenzen gibt. Das kann man bei Tolstoi lernen.

Henrik Ibsen: Peer Gynt

Ich habe in der Schule immer viel gelesen. Ich hatte Deutsch, Englisch und Französisch. Lesen fand ich nie langweilig. Einer meiner besten Lehrer war der für Englisch. Ein feiner, älterer Herr, der auch sehr musikalisch war. Das hat meinen Respekt ihm gegenüber noch gesteigert. Die Bücher, die meine Lebensentscheidungen begleitet haben, kamen später mit meinen Wechseln zwischen den Orchestern. Als ich in Oslo bei den Philharmonikern anfing, habe ich mich schon ein bisschen geschämt, dass ich nicht das gelesen hatte, was meine Musiker schon lange kannten. Mit den Dramen von Ibsen fing ich an. Das ging verhältnismäßig leicht.

Die Musik hat im Fall von „Peer Gynt“ auch vorher schon eine Rolle gespielt in meinem Leben. Ich habe recht gut Geige gespielt als Kind, immer drei bis vier Stunden geübt. Zu Hause hatten wir sogar ein Streichquartett gegründet. Das war ein Heidenspaß. Wir spielten auch in einem Krankenhaus, nicht weit weg von Göteborg. Ich war vielleicht zwölf Jahre alt, mein drei Jahre älterer Bruder spielte Cello, meine Mutter spielte Klavier. Und da haben wir dann Griegs „Peer Gynt“-Musik gespielt – die „Morgenstimmung“, „Solvejgs Lied“. „Peer Gynt“ war mir deswegen schon sehr nahe. Als ich das Stück dann las, erinnerte ich mich auch an einen Satz, die sagte, „was du tust, sollst du ganz tun“. Das fand ich einen sehr guten Maßstab fürs Leben.

Sören Kierkegaard: Entweder – Oder

In Dänemark war es dann Kierkegaard. Da war ich von 1967 an der erste Chefdirigent des Dänischen Rundfunkorchesters. Kierkegaard war noch seriöser, noch schwieriger als Ibsen. Aber die Musik hat mir auch dabei geholfen. Kierkegaards erstes Buch „Entweder Oder“ fängt er mit einem großen Kapitel über Mozarts „Don Giovanni“ an. Über die Entwicklung eines besonders gegenwärtigen Typs Mensch. Über den sinnlichen Menschen, für den alles gut ist, was den Sinnen gefällt – alles, was Spaß macht.

Für Kierkegaard ist der aber nur eine Vorstufe zum eigentlichen Menschen. Für den kommt irgendwann eine Zeit, wo er wählen muss – zwischen gut und – na ja – nicht so gut. Das war sehr wichtig für mich, habe ich aber erst später gemerkt. Kierkegaard hat das in einer Zeit geschrieben, als er sehr suchend war. Er war verlobt. Und das war auch eine schöne Verbindung. Aber in der Zeit, als er an „Entweder – Oder“ schrieb, hat er die Verlobung gebrochen. Weil er meinte, sich zwischen Philosophie und Eheleben entscheiden zu müssen. Kierkegaard beschäftigt mich noch heute. In Kopenhagen habe ich dann auch angefangen, wertvolle Bücher zu kaufen. Das konnte ich mir damals zum ersten Mal leisten.

Tomáš Halík: Geduld mit Gott

Tomáš Halík ist ein tschechischer Religions-Philosoph und Soziologe. Er hat in Prag und Wales studiert. Zum Priester geweiht wurde er in Erfurt. In der damaligen Tschechoslowakei war das wegen der kommunistischen Herrschaft nicht möglich. In der DDR war man da weniger streng. Auf sein Buch aufmerksam wurde ich durch einen Freund in Prag, der Adventist war. Ich war sehr beeindruckt. Geduld ist eine Geisteshaltung, die ja ohnehin eher selten ist. Es gibt sehr wenige Menschen, die gut in Geduld sind. Menschen, die Geduld haben mit Gott, existieren praktisch gar nicht. Von dieser Geduld aber handelt Haliks Buch.

Man müsste Geduld mit Gott haben, wenn man meint, Gott habe versprochen, alles zu tun, worum man ihn bittet. Dafür ist er aber nicht zuständig. Wer kann überhaupt wissen, was Gott will? Man muss Geduld haben, warten, bis Gott handelt, etwas tut für mich, meine Ehe, mein Land. Mein Vater war da ein erschreckendes Beispiel. Er hat sehr gelitten, als seine Frau krank wurde. Er hat gebetet und gebetet und gebetet. Er wurde fast wahnsinnig. Ich ging an seiner Tür vorbei und habe ihn weinen und zu Gott rufen gehört. Aber man kann nicht über Gott bestimmen. Er ist nicht dafür da, Wünsche zu erfüllen. Man kann nur beten und warten. Und braucht Kraft und Geduld mit ihm. Deswegen war dieses Buch für mich so hilfreich. Ich schätze Tomáš Halík sehr. Er ist nicht parteiisch. Ein wunderbarer Christ.

Julia Spinola: Mission Musik

In dem Buch geht es um mich. Das ist ein Buch mit Gesprächen und Begegnungen. Der Titel stammt allerdings nicht von mir. Missionieren, das war das Ideal meines Vaters. Aber man kann ja auch ohne Bibel missionieren. Menschen zu guter Musik bekehren, ihnen zeigen, was es für wunderbare Sachen gibt in der Welt. Und ich bin des Öfteren in meiner Karriere Leuten begegnet, denen die Musik einen neuen Zugang zur Welt geöffnet, denen sie Hoffnung gegeben hat.

Ein Beispiel ist ein japanischer Bankier. Der hat mir nach einem Sinfoniekonzert geschrieben, dass er Selbstmordgedanken hatte, weil in seiner Bank einiges los war, was ihm nicht gefallen hat. Und dann hat er ein Konzert von mir gehört. Eine Beethoven-Sinfonie war es wohl. Dabei hat er entdeckt, dass es so viele Möglichkeiten gibt, dass etwas so Vollkommenes möglich ist in der Welt. Dafür möchte er arbeiten. Das hat mich sehr bewegt. Der Mann schreibt mir jedes Mal, wenn ich nach Tokio komme. Und ich bin in jedem Oktober in Japan. Und dann ist immer eine große Schachtel mit herrlichem Obst von ihm in meinem Hotelzimmer. Er meinte, ich hätte durch die Musik sein Leben gerettet.

Ralph Waldo Emerson: Essays

Von Ralph Waldo Emerson habe ich eine sehr schöne, sehr alte Ausgabe in 13 Bänden, die steht jetzt in meiner Wohnung in Göteborg. Das ist meine Lieblingslektüre. Wenn ich lange Schlange stehen muss in Flughäfen, erinnere ich mich an Passagen daraus. Emerson schrieb vor allem kurze Essays, keine Abhandlungen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein Satz. Ein Student hatte ihn mal gebeten, ob er ihm nicht kurze Lebensregeln aufschreiben könnte. Und dann hat Emerson geantwortet: „Sit alone and keep a diary.“ Das war sein Rezept. Und das hat mir sehr zugesagt. Ich sitze auch gerne alleine. Natürlich bin ich gerne unter Menschen. Aber nur für sehr begrenzte Zeit.

Was Emerson mit Diary meinte, war nicht die Art von Tagebüchern, in denen man Alltäglichkeiten notiert – wann man eingeschlafen ist, was man gegessen hat. Emerson schrieb, er hätte immer ein paar Blätter frei. Und wenn ihm ein Gedanke einfällt, der ihm wertvoll erscheint und ungewöhnlich, dann notiert er den. Oder wenn er etwas liest in einem Buch. Oder etwas hört. Damit er nichts vergisst. Das habe ich auch gemacht, lange bevor ich Emerson kannte. Jeder Jahreskalender hat doch diese vier, fünf leeren Blätter am Schluss. Und die sind bei mir vollgekritzelt mit kleinen Sprüchen. Was ich gelesen habe. Oder mit Gedanken, die mir wertvoll schienen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Satz von Christian Morgenstern, den ich notierte: „Der, der Gott ausschaltet, der wandert durch das Leben ohne Sonne und orientiert sich mit einer Lampe.“

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