Wenn heute so leidenschaftlich über das deutsche „Stadtbild“ debattiert wird, kommt eins dabei fast gar nicht vor: die Architektur. Offenbar rechnet kaum noch jemand damit, dass Architektur in Deutschland überhaupt noch das Stadtbild prägen kann. Dabei ist sie geradezu der Inbegriff von Stadtbild und Stadtkultur überhaupt. Wenn sie kaum noch erwähnt wird, zeigt das vor allem eins: den Bedeutungsverlust der zeitgenössischen Architektur in allen aktuellen Debatten. Gestritten wird über den öffentlichen Raum, Wohnungsmangel, Klimapolitik, Verkehr, Migranten, Kriminalität.
Das Stadtbild als Ergebnis von Planung und Architekturwettbewerben hat seine Bedeutung für breite Gesellschaftsschichten verloren. Daran sind zuallererst die Architekten selbst schuld. Die vor hundert Jahren wie ein Triumph gefeierte „Gleichform“ ist gleichgültig geworden. Was sich im Stadtbild von heute spiegelt, offenbart eine tiefe Krise von Stadtarchitektur und Stadtplanung. Als wesentliche Gestaltungskräfte unserer Lebenswelt haben sie nicht nur ihren Einfluss, sondern auch die Achtung der Mitbürger verloren.
Architektur ist auch heute noch – ob man es wahrnimmt oder nicht – eine wesentliche Voraussetzung für Wohlbefinden, Heimatgefühl, Sicherheitsempfinden, gesellschaftliche Achtsamkeit, Sitte und Kultur. Sie steht für zentrale Zivilisationsgüter, ohne die ein Gemeinwesen nicht gedeihen kann. Wenn sie keine Rolle mehr spielt, ist die Abstumpfung der Gesellschaft gegen diese Werte weit fortgeschritten. Dann repräsentiert das Stadtbild nicht mehr das Ganze der Gesellschaft. Es ist beschädigt und zeigt an, dass die Gesellschaft beschädigt ist.
Wie diese Beschädigung zustande kam, lässt sich an einem einzigen Beispiel verdeutlichen: dem Einkaufscenter. Ursprünglich war es eine amerikanische Erfindung, mit der die bei US-Touristen so beliebten europäischen Altstädte in die „Neue Welt“ importiert werden sollten.
Die Grundidee ist simpel. Alle Läden einer typischen europäischen Altstadtstraße werden auf einen Haufen zusammengeschoben und in eine große glitzernde Schachtel gepackt. Die setzt man dann wie eine Raumkapsel möglichst mitten in die Stadt – ein Landemanöver wie auf dem Mond oder dem Mars, mit dem Unterschied, dass es hier nicht um eine Steinwüste, sondern um ein lebendiges menschliches Biotop geht. Zur Popularisierung dieses Gewaltakts wurde das Wort vom „Erlebnis-“ Einkauf erfunden. Und unter diesem Titel kam die nachgemachte „Altstadt“ als Re-Import in die echten europäischen Altstädte zurück.
In Europa, wo Altstädte seit Jahrhunderten ihren je eigenen „Erlebnischarakter“ haben, kamen die künstlichen „Cities“ anfangs durchaus gut an. Mit ihren Implantaten „echter Natur“, mit Bäumen in Bottichen, Kunstblumen und Springbrunnen, Döner- und Eisbuden, wirkten sie auf die Käufer wie ein Unterhaltungsangebot. Eingelullt mit einschmeichelnder, leise dahin plätschernder Dudelmusik, freute sich das Publikum an dieser Neuheit, die den Einkauf einfacher machte. Nur sagte ihm niemand, was der Preis dafür war. Der „echten Altstadt“ wurde das Wasser abgegraben.
„Macht es Sinn“, fragte der Architekt und Stadtplaner Walter Brune schon vor mehr als zwanzig Jahren, „dass hunderte oder tausende Einzelhandeltreibende in den gewachsenen Einkaufsstraßen ihre Existenz verlieren, damit jeweils ein einzelner Investor ein Groß-Shopping-Center betreiben kann, das aufgrund seiner Reize natürlich eine ganz andere Magnetwirkung auf die Kunden hat, wo man zudem bequem kostenlos parken kann und sich nach wenigen Schritten in einer vollständig überdachten Einkaufsglitzerwelt wiederfindet?“
Brune musste es wissen, weil auch er nicht ohne Sünde war und als Projektentwickler und Consultant selbst Shopping-Malls gebaut und entwickelt hatte. Mit seiner kritischen Bestandsaufnahme legte er gleichsam öffentlich Buße ab – und Dutzende Experten des Einzelhandels schlossen sich ihm an. Was sie unter dem Titel „Angriff auf die City“ veröffentlichten, ein Buch von 290 Seiten mit Kapitelüberschriften wie „Der Verkauf des Öffentlichen“, „,Sargnägel’ oder Bereicherung für gewachsene Innenstädte?“, „ECE bringt das Saarland unter Kontrolle“, war nichts Geringeres als eine Abrechnung und traf ins Schwarze. Denn die Einpflanzung von Einkaufszentren in gewachsene Städte ist eben nicht nur ein Einzelhandelsthema. Sie geht die Stadt, das Stadtleben, die Stadtkultur im Ganzen an.
Brunes kämpferisches Buch erschien 2006. Die Kommunalpolitiker setzten sich darüber hinweg. Zu groß war die Verlockung, sich mit einer Shopping-Mall einen „Namen“ machen. Den Centern ging der Ruf voraus, Städte zu „modernisieren“, ihre Attraktivität zu steigern, ihre Wirtschaftskraft zu stärken, Käufer aus dem Umland anzulocken, Warenangebot und Warenumschlag zu beschleunigen, den Wocheneinkauf für gestresste Familien zu erleichtern. Einsprüche hatten keine Chance. Um für den großen Klops Platz zu schaffen, wurden ganze Stadtquartiere abgeräumt.
Beim Center-Thema bogen sich die dicksten Stahlträger vor Lügen. Und die größte war das Versprechen, dass die Shopping-Mall Käuferscharen aus dem Umland anlocken würde. Denn das Umland hatte längst sein eigenes Center.
Was Lobbyisten, Bürgermeister und Dezernenten vergaßen
Was bei den „Anbahnungsgesprächen“ der Bürgermeister und Baudezernenten mit den Center-Lobbyisten meist unter den reich gedeckten Tisch fiel, das war die Kehrseite: Das alles galt ja nur für bestimmte Käuferschichten. Vor allem mussten sie motorisiert sein. Die wachsende Klientel der Alten, die auf den Nahkauf angewiesen ist, wurde nicht mit ins Boot genommen. Denn das Center mag noch so attraktiv sein, unter seinem Dach mögen sämtliche Branchen barrierefrei erreichbar sein – man muss nur erst mal hinkommen.
Und waren da nicht auch noch die Hausbesitzer, die von den Gewerbemieten der Ladeninhaber die Renovierung ihrer Gründerzeitfassade bezahlt hatten? Die mussten nun sehen, wie sie ihre Kredite auch ohne den Mieter im Erdgeschoss bedienen konnten. In den Städten der früheren DDR, die gerade erst begonnen hatten, die alten Netze eines einstmals florierenden Einzelhandels zu flicken, ging die „Transformation“ besonders schnell. Waren die neuen Kaufpaläste nicht ein Geschenk des Himmels? Brachten sie nicht die ganze Palette des Angebots mit einem Schlag auf den Tresen? Waren die von den Kommunisten enteigneten, noch nicht wieder bebauten Grundstücke nicht sofort verfügbar, sodass mit dem Bau im Hauruckverfahren begonnen werden konnte? Die kleinen Geschäftsleute hatten da von vornherein keine Chance. Die Center nahmen den Innenstädten, den potenziellen künftigen Einkaufsstraßen und Kaufhäusern die Kunden weg, bevor ein „Gründer“ auch nur seinen Bauantrag durchgebracht hatte.
Dass damit auch der Wiederaufbau in so mancher DDR-Stadt ausgebremst wurde, war die fatale Folge dieser kopflosen Politik. Ohne Gewerbemieten war die finanzielle Decke für Privatinvestoren einfach zu kurz, ihr zu SED-Zeiten ruiniertes Haus selbst zu sanieren oder wieder aufzubauen. Viele konnten das ererbte Grundstück nicht halten und mussten es abstoßen. Dass sich so viele Städte gegen diesen Trend dennoch die Chance für einen Neuanfang zu sichern vermochten, grenzt an ein Wunder.
Ein paar Jahre lang schossen die Center deutschlandweit wie Pilze aus dem Boden. Aber das ist nicht das, was das Stadtbild heute darbietet. Aus der großsprecherisch ausgerufenen „Verjüngungskur“ für die Stadt durch Shopping-Malls ist vielerorts ein beschleunigter Alterungsprozess geworden. Heute klagt der Einzelhandel über Leerstände, die nicht mehr nur auf Corona, den Fachkräftemangel oder den Onlinehandel geschoben werden können.
Die 500 deutschen Einkaufscenter sind unsichere Orte geworden, weil sie unübersichtliche, unpersönliche anonyme Orte sind. Die Zahlen für 2023/24 mit 3000 Messerangriffen, 1400 Drogendelikten, tausend Fällen von Vandalismus, drei Milliarden Euro Verlusten bei Ladendiebstählen, 235 Verletzten und einer Kriminalitätsrate von 75 Prozent Migranten sprechen eine eindeutige Sprache.
Was einst mitteleuropäische Stadtkultur hieß, versinkt in Verwahrlosung. Mancher Warentempel hat schon wieder dichtgemacht, hat seine Schaufenster zugeklebt, damit die Leere nicht auffällt, hat ganze Etagen und Passagen abgeriegelt, damit die Kunden nicht merken, dass es wie auf der Rolltreppe nach unten geht. Ähnlich das Bild in mancher einst blühenden Einkaufsstraße. Läden und Kaufhäuser werden als Verfügungsmasse für den Umbau zu Wohnungen und Büros gehandelt oder wie Ramsch auf die Schutthalde gekarrt. Dass in solchen Milieus des Abstiegs und des Abbaus kein Gefühl von Stabilität, Sicherheit und Sinnhaftigkeit mehr gedeihen kann, ist die unausweichliche Konsequenz.
Fremdkörper in der europäischen Stadt
Das blauäugige Erstaunen über diese Bilanz ist heuchlerisch. Denn man wusste von Anfang an: Die amerikanischen Handelsmaschinen sind Fremdkörper in der europäischen Stadt. Und sie sind tödlich für gewachsene Innenstädte. Sie polen die Wirtschaftskreisläufe der Städte um und entziehen nicht nur Tante Emma, sondern ganzen Stadtquartieren die Existenzgrundlage. Es gibt nicht zu viel Geschäfte, nur zu viel an der falschen Stelle. Und die Brachen wachsen. Dass sich die Wegebeziehungen verlagern, bekommen eben auch die Traditionsgaststätte mit Holzbalkendecke und Kuckucksuhr, der Papier- und Schreibwarenladen und die Parfümerie zu spüren.
Am Einkaufscenter wird klar, welche Kettenreaktionen durch eine einzige stadtplanerische Fehlinvestition ausgelöst werden. Man darf den Niedergang nicht den Shopping-Malls allein anlasten. Aber die schleichenden Prozesse der Erosion leiten sich ganz wesentlich aus dem Missverständnis her, dass die moderne Stadt als ein Mechanismus verstanden und wie ein solcher ständig „optimiert“ werden muss.
Die verapparatete Stadt ist mitleidlos, schnell, zweckbestimmt und in internationale Beziehungen gebunden. Für die Örtlichkeit, für „Heimat“ und Geborgenheit, fehlt ihr das Organ. Sie ist ein Aggregat in globalen Warenströmen, ein Glied von Handelsketten und grenzüberschreitenden Konzernstrukturen. Ihr innerer Aufbau, der einmal einem Gefäßsystem glich, ist eine Installation, die auf systematisierten, effektivierten mechanischen Prinzipien basiert und nach streng funktionalen Gesetzen arbeitet. Im übertragenen Sinne lässt sich die Implantation eines Centers in die Stadt mit einer Herztransplantation vergleichen, bei der dem Patienten aber kein lebendiges Organ, sondern ein Kunstherz eingepflanzt wird. Und das kann mit der alten menschgemachten Stadtzivilisation wenig anfangen.
Hier liegen die Gründe für die wachsende Entfremdung, die zwischen der traditionellen Stadt und der Smart City, zwischen Mensch und Maschine, zwischen dem alten und dem neuen Stadtbild klafft. Diese Spaltung erschüttert den gesellschaftlichen Frieden. Das Individuum, das sich „überfahren“, vereinnahmt, fremdbestimmt fühlt, wehrt sich mit Obstruktion. Von der Übermacht objektiver Zwänge in die Enge getrieben, kündigt es die Solidarität mit seiner Stadt, mit der Staatsräson, ja, mit seiner Gattung auf. Wer anonyme Mächte, das „System“, die Menschheit, die Weltordnung für seine Demütigung verantwortlich macht, glaubt sich am Ende berechtigt, die Vergeltung in die eigne Hand zu nehmen.
Das Einkaufscenter kann als Paradebeispiel dafür gelten, wie, warum und wohin sich die Stadt im 20. Jahrhundert entwickelt hat und wie sich dieser Wandel auf das Stadtbild auswirkt. Andere Themen dieses Wandels sind die autogerechte Stadt, die grüne Stadt, die Trabantenstadt, die klimaneutrale Stadt, die Gartenstadt. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie leiten sich nicht von ästhetischen, sozialen, psychologischen oder historischen Belangen, also von menschlichen Bedürfnissen her, sondern von funktionalen und konstruktiven. Über den Mechanismus, der hier wirkt, hat der Städtebautheoretiker Dieter Hoffmann-Axthelm schon vor 20 Jahren geschrieben, als Stadtbildprobleme noch kein Thema waren: „Die vorhandene Stadt wird nicht mehr als Stadt erlebt, sondern als Flächendebakel, als ästhetische, mehr natürlich noch als soziale Bedrohung …“ Man hätte auf ihn hören sollen.
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