„Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ nannte Alexander Kluge einen seiner frühen Filme. Ratlos sind auch die Artisten auf der Theaterbühne in dem neusten Stück von Falk Richter, an der Berliner Schaubühne vom Autor selbst zur Uraufführung gebracht. „Hannah Zabrisky tritt nicht auf“ zeigt eine von Welt- und Selbstekel erschütterte Schauspielerin, die sich nach Leben sehnt. Wie Richters „Bad Kingdom“, auch an der Schaubühne, geht es um das am Weltzustand verzweifelnde Gegenwartstheater: Alle saufen, niemand will mehr spielen und auf Social Media gibt es auch nur Horrorshow.

Es ist eine Theaterbetriebsklamotte, die der 56-jährige Dramatiker und Regisseur Richter auf die Bühne bringt. Wie „Der nackte Wahnsinn“, aber mit mehr Weltschmerz garniert. Die von Jule Böwe gespielte Titelfigur Hannah Zabrisky ist ein Bartleby („I would prefer not to.“) der Jetztzeit. Ein alternder Schauspielstar, dem alles Alltägliche mehr und mehr unerträglich wird. Deren Sehnsucht nach Leben sich vor allem als Sehnsucht nach Whisky äußert. Die eine Aura der Übergriffigkeit um sich herum verbreitet. Und so Sätze sagt wie: „Wann verliert man das Gefühl, dass noch alles möglich ist im Leben?“

Zabrisky probt ein neues Stück, mit wachsender Unlust. Sie sperrt sich gegen den Text, den eine junge, leicht streberhafte Dramatikerin (Alina Vimbai Strähler) geschrieben hat. Die neoexistenzialistische Verzweiflungsprosa über eine ältere Frau ist zwar immerhin so passend, dass Zabrisky immer wieder Probe und Wirklichkeit vermischt, doch sie will etwas anderes. Irgendwas mit Leben und Schaffensrausch, raus aus der Blockade, sich wieder etwas trauen. Und den Ausweg meint sie bei der Freundin der Dramatikerin, einer hyperpolitischen Social-Media-Aktivistin (Pia Amofa-Antwi), zu finden. Auch das noch.

Performatives Burnout

In einer Slapstick-Szene lässt der berufsjugendliche Regisseur (Renato Schuch) Ohrfeigen verteilen. Echte Ohrfeigen. Der Zuschauer soll den Schmerz fühlen. Doch immer, wenn der von Kay Bartholomäus Schulze gespielte Schauspielerkollege ausholt, duckt sich Zabrisky weg oder fällt ihn in den Arm: die große Weigerung. Währenddessen fühlt sich die von Ruth Rosenfeld verkörperte Freundin des Regisseurs als hübsches Anhängsel im Hotelzimmer mit Designer-Lampe zurückgelassen. Ihr Jetset-Leben, polyglott und polyamourös, ist unbefriedigend. Overachiever, die underperformen.

Was ist nur los mit diesen Theaterleuten? Alle wirken wie im performativen Burnout gefangen. Sie sind von Beziehungs- und Weltproblemen geplagt, die die Social-Media- ebenso wie die Theaterbühnen überfluten. Die professionellen Gefühlsproduzenten könnten nicht mehr. Man will wieder echte Gefühle, nur was ist das? Die Kulturindustrie des emotionalen Kapitalismus ist wie die klassische Industrie in einer Überproduktions- und Unterkonsumtionskrise gelandet. Investitionen, auch affektiver Art, scheinen da keinen Mehrwert mehr abzuwerfen. Überall breiten sich Zynismus und Fatalismus aus.

Man kann „Hannah Zabrisky tritt nicht auf“ als Bestandsaufnahme eines Theaters verstehen, das sogar noch die Verzweiflung am Weltzustand als vorgefertigte Gefühlsware im Angebot hat. Ein Zeige-deine-Wunden- und Traumatherapietheater, das die Beteiligten unerbittlich nur noch weiter in die Erschöpfung treibt. Eine toxische Selbsthilfegruppe, die nur noch ein Gefühl kennt: Ratlosigkeit. Die sich aufdrängende Einsicht in die Ohnmacht will man abwehren, indem man auf den Empörungswellen von Instagram, TikTok und Co. zu surfen versucht. Eine Flucht in die Pseudoaktivität.

Am Ende sieht man den Regisseur und die Autorin mit ihren Partnern auf der Hinterbühne stehen, den Blick auf einen kleinen Bildschirm geheftet. Dort sehen sie, wie Zabrisky mit einem jungen Kollegen (Damir Avdić) alles über den Haufen wirft, was geprobt wurde. Sie agitiert das Publikum, spricht von einem Krieg, von toten Kindern, von schlaflosen Nächten. „Wenn sie so weitermacht, canceln sie euch“, sagt die Freundin des Regisseurs. Nur: Für die verhärmte Zabrisky fühlt sich die überdrehte Verzweiflungsperformance „echt“ an, auch wenn sie nur Social Media nachplappert.

Als Spiegel des Gegenwartstheaters ist „Hannah Zabrisky tritt nicht auf“ interessant. Weniger interessant ist der knapp zweistündige Abend als Gegenwartstheater selbst. Die Figuren finden selten zu einer eigenen Sprache, sondern charakterisieren sich meist selbst, als würden sie sich in einer Vorstellungsrunde befinden oder ein soziologisches Kurzreferat halten. So entstehen mehr Abziehbilder als aus dem Leben gegriffene Menschen. Dass es sich um eine Selbstbespiegelung des Theaters handelt, zeigen die Garderoben, die Nina Wetzel neben die Drehbühne gestellt hat. Dass sie jedoch kaum bespielt werden, ist so irritierend wie die oft unverbunden wirkenden Video-Einspieler.

Das Premierenpublikum am Samstagabend freut sich jedenfalls sichtlich, wenn Ohrfeigen verteilt werden, wirkt aber ansonsten ebenso ratlos wie die Artisten auf der Bühne, was man mit diesem Theater nun anfangen soll. So kann man die Frage mit in den Abend nehmen, was für ein Theater heute nötig oder möglich wäre. Ist es noch der „Stachel im Arsch der Mächtigen“, wie der verstorbene Claus Peymann sagte? Oder die überforderte Heilanstalt für Weltschmerz und sonstige Verletzungen, wie an diesem Abend angedeutet? Oder ist das Theater zurzeit einfach in einer Sackgasse: ratlos?

„Hannah Zabrisky tritt nicht auf“ läuft an der Berliner Schaubühne.

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