Es gibt abgebrühte Menschen, die sich aber als nachhaltig traumatisiert bezeichnen durch eine Szene in Lars von Triers Fernsehserie „Hospital der Geister“ (1994): Eine Assistenzärztin gebiert da einen mit dämonischer Hilfe gezeugten, ausgewachsenen Udo Kier. Blut überall, und mittendrin diese helltürkis leuchtenden Augen. Horror und Albernheit, Ekel und monströse Aristokratie, solche Grenzen konnte wohl niemand so brutal elegant und wie nebenbei überschreiten wie der 1944 in Köln-Mülheim als Udo Kierspe geborene Hollywood-Star.
Hätte seine wirkliche Mutter kurz nach seiner wirklichen Geburt nicht die Kraft gehabt, sich und ihr Baby aus dem soeben zerbombten Krankenhaus zu befreien, und hätte Kier nicht mit 18, schön wie ein junger Gott, den Mut gehabt, nach London zu gehen, wo er sich kellnernd durchschlug und abends Schauspielunterricht nahm, würde dem Kino der letzten 50 Jahre etwas Entscheidendes fehlen. Denn wo immer Udo Kier in seinen etwa 250 Filmen auftaucht, und sei es nur kurz in bizarren Nebenrollen: Markant und einprägsam waren seine Auftritte immer, sie erlaubten, ja forderten ein kurzes Innehalten und Abstandgewinnen. Moment, was passiert hier gerade eigentlich?
Die Karnevalsstadt Köln war nicht der schlechteste Ort zum Aufwachsen für einen, der künftig mit kultiviert provokanten Grenzüberschreitungen sein Geld verdienen würde. Der Messdiener Udo liebte das Verkleiden, etwa als Caterina-Valente-Imitator. In den Siebzigern galt er neben Alain Delon und Helmut Berger als einer der schönsten Männer Europas. Er war, so schrieb der „Stern“, der „Deutsche mit Appeal“, also etwas ziemlich Unwahrscheinliches.
Das Image des schönen Flaneurs durch schräge Welten, als den er sich innerhalb und außerhalb seiner Arbeiten inszenierte, führte ihn außer nach London auch nach Rom und New York. Paul Morrissey verschaffte ihm durch seine Filme „Andy Warhols Frankenstein“ und „Dracula“ erste Berühmtheit. Rainer Werner Fassbinder, den er als Teenager in einer Kölner Arbeiterkneipe kennengelernt hatte und mit dem er in München in einer WG wohnte, engagierte ihn etwa in „Lili Marleen“ (1981) und „Berlin Alexanderplatz“ (1980). Ihn verbanden langjährige Zusammenarbeiten mit Lars von Trier, Werner Herzog, Christoph Schlingensief und Gus Van Sant. Aufsehen erregte aber auch seine Mitwirkung an Madonnas Fotobuchprojekt „Sex“.
Im besten Sinne oberflächlich
Udo Kier konnte auf der Leinwand alles sein. Stimmungen am Set konnte er osmotisch aufnehmen. Tradition hatte bei ihm, dass er sich vor dem Dreh zunächst mit den Mitarbeitern aller Gewerke bekannt machte. Als guter Mensch wollte er sich deshalb aber auch wieder nicht abgefeiert sehen, wie er einmal ironisch betonte: Natürlich müsse man sich mit den Beleuchtern gut verstehen, man wolle ja gut aussehen.
In einer eigenen Regiearbeit, dem Kurzfilm „Last Trip to Harrisburg“ von 1984 mit Musik von Helmut Zerlett, spielt er einen Mann und eine Frau, die sich in einem Zug gegenübersitzen und apokalyptische Sätze sprechen. Kier ließ sich von Fassbinder synchronisieren, was dem Ganzen das hypnotische Gepräge eines inneren Endzeit-Monologs verleiht.
Sein berühmter Blick, hell, verletzlich und gnadenlos, den er ohne zu blinzeln lange halten konnte, lässt die Kategorie „Charakterdarstellung“ hinter sich. Kiers Auftauchen hat immer die Dimension eines Zeichens. Für etwas, das sich jeder Eindeutigkeit entzieht.
Seine Arbeitsweise ermöglichte es ihm dabei, mit den unterschiedlichsten Regie-Temperamenten zusammenzuarbeiten, und war im besten Sinne oberflächlich: Er reagierte lieber spontan auf den sich im Hier und Jetzt entfaltenden Moment, anstatt sich mit Method Acting die vermeintliche Seele aus dem Leib zu spielen. Die Rolle des dekadenten Dandys, dem Rausch zugeneigt und dennoch diszipliniert, kultivierte er auch jenseits des Sets.
Seine Präsenz war über die Jahre ungebrochen, gefragt war er bis zuletzt, auch wenn er selbst betonte, von seinen mehr als 200 Filmen seien 50 vielleicht ganz gut geworden. Noch 2025 trat er in dem Thriller „The Secret Agent“ von Kleber Mendonça Filho auf, dem brasilianischen Kandidaten für den sogenannten Auslands-Oscar 2026. Doch der Film, der ihm zuletzt besonders am Herzen lag, war „Swan Song“ von Todd Stevens.
Wie er sich da als alternder Friseur und einstiger Drag-Performer vom Grau der Jogginghose im Seniorenheim zurückkämpft ins Bunte und ins Lebendige: Das sagte viel über Kiers Lebenshaltung aus, aber auch über die Melancholie angesichts einer Gegenwart, in der das Schrille und der dem Tod abgetrotzte fröhliche Exzess – Kier bezeichnete sich hartnäckig als „Kölsche Jung“, obwohl er seit vielen Jahren in Palm Springs lebte – es zunehmend schwer haben.
Auch der Tod ließ sich vielleicht als künstlerisches Projekt begreifen, wenn man nur konsequent genug seinem Blick standhielt. Mit Anfang 50 soll sich Kier eine Grabstelle neben dem Regisseur Cecil B. DeMille gemietet haben, für 3000 Euro im Monat. Dekadent der Kunst verpflichtet bis zuletzt. Am 23. November starb Kier im Alter von 81 Jahren.
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