In Hawkins herrscht Lockdown, und zwar in einer so radikalen Variante, dass selbst die chinesischen Corona-Maßnahmen dagegen wie Stubenarrest wirken. Das Militär hat den Ort komplett abgeriegelt; keiner kommt raus, und nur ab und zu ein Versorgungskonvoi rein. Das Tor zur Hölle ist geöffnet, und zwar buchstäblich, und mitten durch den Ort geht ein Riss, unter dem das Upside Down mit seinen teuflischen Kreaturen auf die Gelegenheit wartet, erst die Stadt- und dann auch die Weltherrschaft zu übernehmen. Der endzeitliche Kampf muss kommen, es ist schließlich die fünfte und letzte Staffel der Horror-Mystery-Serie „Stranger Things“, die nun – in drei Teilen – auf Netflix zu sehen ist.
Wir sind anno 1987, vier Jahre nachdem die Unterwelt in Gestalt des Demogorgon (eine Art fleischfressende Pflanze mit dem Speed eines Geparden) erstmals in das beschauliche Kleinstädtchen in Indiana einbrach und den zwölfjährigen Will Byers entführte. Damals begann der Kampf seiner drei gleichaltrigen Kumpel Mike, Lucas und Dustin gegen die Mächte der Finsternis um den Oberteufel Vecna, der in jeder Staffel mit neuer List versucht, die Welt in seinen Bann zu schlagen.
Alle Regler hoch
Von Staffel zu Staffel – die erste erschien 2016, die vierte 2022 – haben die produzierenden Duffer-Brüder – die 1984 geborenen Zwillinge Matt und Ross – die Regler an Pathos, Drama, Volumen und Frequenz immer höher gedreht. So als wäre die ganze Serie vor allem ein bebilderter Soundtrack im Stil des tonangebende 80er-Bombast-Rock à la Metallica, Meat Loaf oder Queen. Deren Monsterhymne „Who Wants to Live Forever“ untermalt passenderweise den Trailer zu Staffel 5.
Folge 1 beginnt erst einmal mit einer Reminiszenz an die Anfänge. Man sieht den kleinen Will Byers auf der vergeblichen Flucht vor dem Demogorgon und erlebt noch einmal seine unappetitliche Inbesitznahme durch Vecna, der ihn zum Werkzeug macht. Auch nach seiner Rettung spürt Will körperlich die Nähe des Bösen, er ist zu einer Art Medium geworden, was nun beim finalen Kampf wohl wieder wichtig werden wird.
Rein nach der ersten (allerdings überlangen) Folge zu urteilen – auch für die Presse gab es vorab keine weiteren zu sehen –, versucht es Vecna mit der altbewährten Strategie, sich an Schwächeren zu vergreifen, um sie zu gegebener Zeit als Köder zu verwenden.
Es ist ein geschickter Schachzug der Duffer-Brüder, mit Holly, der kleinen Schwester von Nancy und Mike Wheeler, eine bisherige Nebenfigur ins Zentrum zu rücken. Das Mädchen hat Visionen, ist in Kontakt mit dem Jenseits und wird schließlich für den Demogorgon, der Angst verlässlich wittert, zu einem lohnenden Opfer.
Der Hauptstrang der Handlung besteht aber in der gemeinsamen Jagd sämtlicher inzwischen in Hawkins aufgelaufenen (und dort festsitzenden) Protagonisten auf Vecna, um ihn endgültig zu Strecke zu bringen. Staffel 4 endete nämlich mit einem Unentschieden, anders gesagt, einem Cliffhanger: Zwar konnte der Angriff in maximaler Kollektivanstrengung erst einmal abgewehrt werden, aber um den Preis, dass Max – das sensible Mädchen, dass dauernd Kate Bushs „Running up that Hill“ auf dem Walkman hört – seither im Koma liegt, auf der Schwelle zwischen Leben und Tod.
Systematisch haben die Hobby-Geisterjäger seither das Upside Down nach Vecna abgegrast. Inzwischen bildet die um diverse Erwachsene vergrößerte Freundes- und Familienschar (die Byers sind sogar lockdownbedingt bei den Wheelers eingezogen) eine fast paramilitärische Organisation, mit festen Schlachtplänen, Waffen, Karten, Ausrüstung und Kommunikationstechnik. Die Truppe wirkt beinahe professioneller als die richtige Armee, die in Hawkins einen schwer bewaffneten Stützpunkt errichtet hat; den Riss haben die Soldaten mit Stahlplatten provisorisch zugedeckt.
Die Serienmacher haben also alles so angerichtet, um den Endgegnerzyklus ein weiteres Mal zu durchlaufen, und nach eher missglückten Ausflügen auf Nebenkriegsschauplätze in den Staffeln 3 und 4, konzentriert sich alles wieder im vertraut-unheimlichen Mikrokosmos Hawkins, zwischen Schule, Lokalradio und von innen wie außen bedrohter amerikanischer Familienidylle.
Das Grundproblem, eine Teenagerserie über Jahre fortzusetzen, hat sich immer weiter zugespitzt. Als die erste Staffel vor fast zehn Jahren anlief, spielte sie 1983, und die vier Jungs waren (in der Fiktion) zwölf Jahre alt. Inzwischen sind wir in der Timeline erst im Jahr 1987 angekommen. Die Schauspieler sind alle in ihren Zwanzigern, sollen aber immer noch Jugendliche verkörpern. Dem High-School-Setting sind sie längst entwachsen, es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Dustin, gespielt vom eher kleingewachsenen Gaten Matarazzo, zum Mobbingopfer der Schulgang wird. Aber auch Dustin ist vom nerdigen Kid inzwischen zum muskelprotzigen Halbstarken mutiert.
Auf den ersten Blick wirkt alles wie ein Recycling der erwartbaren „Stranger Things“-Topoi von Freundschaft, Treue und Verrat. Es wird niemanden überraschen, wenn sich schließlich herausstellte, dass man nur gemeinsam stark ist und die Überwindung dieser Konflikte der Schlüssel zum Sieg ist. Das Gleiche gilt für die ewige Rivalität zwischen Steve und Jonathan, die immer noch beide um Nancy buhlen und offenbar einfach nicht wirklich erwachsen werden können.
Oder für den Vater-Tochter-Konflikt, den der kampferprobte Ex-Cop Hopper mit seiner Adoptivtochter Eleven austrägt, die über Superkräfte verfügt und höchstwahrscheinlich immer noch die Einzige ist, die Vecna wirklich gewachsen ist. Aber wer weiß, vielleicht entpuppt sich Will Byers mit seiner inneren Standleitung zum Oberdämon auch noch als kriegsentscheidend.
Das Spekulieren über die aberwitzigsten Handlungsverläufe macht bei „Stranger Things“ mindestens die Hälfte des Spaßes aus, die andere besteht im Wiedererkennungswert bei jedem Detail. Das Retrohafte erstreckt sich längst nicht mehr nur auf die 80er-Jahre-Technik, -Klamotten oder -Pophits. Auch die Figuren und ihre Konflikte haben schon nostalgische Züge angenommen. Wer als Neunjähriger bibbernd auf Netflix sein Horror-Urerlebnis hatte, der empfindet „Stranger Things“ heute als Teil der eigenen Kindheit. In den nächsten Wochen bis zum Finale am Neujahrstag kann man sie noch einmal durchleben.
Der erste Teil von Staffel 5 ist ab 27. November auf Netflix zu sehen, der zweite Teil ab 26. Dezember. Die finale Folge ist erst am 1. Januar zugänglich. Der Rezensent konnte vorab nur die erste Folge sehen.
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