Umfragen zufolge sagen über 90 Prozent der Familien, ihnen seien gemeinsame Mahlzeiten wichtig. Doch nur rund drei Viertel von ihnen können sich diesen Wunsch regelmäßig erfüllen. Die Gründe sind vielfältig: asynchrone Arbeitszeiten, sportliche Aktivitäten der Kinder, Verabredungen mit Freunden, Hausaufgaben, Musikunterricht, Nachhilfe. Über ein Viertel der Eltern fühlt sich unter der Woche regelmäßig überfordert, 40 Prozent empfinden das gemeinsame Abendessen sogar als stressig.

So wird es zu einem „Wir müssten mal wieder …“-Vorsatz oder wird ins Wochenende verschoben. Mehrere Menschen an ein und demselben Tisch: Das ist fast ein Luxus geworden. Oder etwas, für das man sich richtig Mühe geben muss.

Der klassische Dreiklang von Frühstück, Mittagessen, Abendbrot war Erfindung einer Arbeitswelt, in der Erwerbsarbeit und Familienleben unterschiedliche Sphären hatten und immer jemand zu Hause war, um Kartoffeln zu schälen. Heute sind Arbeitszeiten verschoben und fragmentiert. Menschen arbeiten im Homeoffice und sind dennoch nicht wirklich „zu Hause“. Kinder haben lange Schultage, Hortbetreuung, Hobbys.

Dazu kommt, dass wir das Essen selbst mit Bedeutungen aufgeladen haben, die es lange nicht hatte. Früher lautete die Frage: Werden alle satt? Heute ist Essen Projekt, Identität, Moral. Eine Familie aus Menschen mit unterschiedlichen Ernährungsstilen – vegetarisch, bloß keine Kohlehydrate, alles superheikel –, müsste eigentlich für jeden einzelnen extra kochen. Tut sie natürlich nicht. Also wird improvisiert. Jemand isst irgendwann vorher den Proteinriegel, jemand anderes bestellt sich später noch Sushi. Das gemeinsame Gericht wird zur seltenen Schnittmenge.

Unter solchen Bedingungen ist das klassische Abendessen fast anachronistisch geworden. Es zwingt zu Vereinfachungen (ein Topf, eine Schüssel Salat) und dazu, mal auch etwas essen zu müssen, was einem nicht schmeckt. Menschen gegenüberzusitzen, die schlechte Laune haben, zu laut kauen, nachfragen, was aus der Mathearbeit geworden ist. Verständlich, dass man sich davon befreit, sobald es geht – mit fünfzehn, sechzehn, wenn man genug Ausreden hat.

Was der Verlust des gemeinsamen Abendessens kosten könnte, erzählen einem jede Menge Studien, die Familienmahlzeiten zur Wunderwaffe erklären: Kinder, die häufiger mit der Familie essen, haben statistisch gesehen weniger psychische Probleme, trinken weniger Softdrinks, sind seltener übergewichtig, haben bessere Noten und sind sozial kompetenter. Der abendliche Tisch gilt als Immunisierung gegen Einsamkeit und Exzesse.

Doch wie so viele Geschichten über Wundermittel stimmt auch diese nur halb. Wer genauer hinschaut, sieht mehr Korrelationen als Kausalitäten. Familien, in denen regelmäßig jemand kocht und Menschen gemeinsam essen, sind oft solche, in denen jemand generell Zeit und Ressourcen hat, um über Hausaufgaben, WhatsApp-Dramen und Liebeskummer, Sport und Zukunftspläne zu sprechen. Familien also, in denen genug Platz, Geld und emotionale Stabilität vorhanden sind. Wenn man aus den Untersuchungen Faktoren wie Einkommen, Bildung, Familienklima herausrechnet, werden die Effekte der Mahlzeit selbst viel kleiner.

Der Tisch ist kein Reparaturbetrieb, eher eine Lupe. Was es an Nähe, Konfliktfähigkeit, Zuneigung gibt – all das wird an ihm sichtbar. Und wer ohnehin keine Ressourcen hat, mehrere Jobs jongliert, allein erzieht und ständig knapp bei Kasse ist, erlebt das gemeinsame Abendessen eher als zusätzliche Prüfung – an der man scheitern kann. Zudem ist der Esstisch (falls es ihn noch gibt, denn mittlerweile müssen auch Räume und Möbel multitasken) immer noch ein Ort, an dem Geschlechterrollen aufeinanderprallen.

Der Mythos vom fröhlichen Familienvater am Herd macht sich gut in Werbespots, aber die Lastenverteilung in echten Haushalten ist hartnäckig traditionell. All die unsichtbare Arbeit – Planung, Einkaufen, Wissen über Allergien, Abneigungen, Vorräte – bleibt meistens doch an den Frauen hängen. Die viel von ihren Mehrfachbelastungen berichten könnten und es nur selten tun: Vollzeitjob plus tägliches Abendessen als moralische Pflicht. Kein Wunder, dass viele Mütter die Stunde zwischen sechs und sieben nicht wirklich leiden können.

In unseren Vorstellungen beginnt die Geschichte der Zivilisation oft mit dem Feuer: Menschen, die sich um eine Glut versammeln, Nahrung erhitzen, etwas teilen, das niemand allein hätte erlegen können. In diesem Sinn ist jede gemeinsame Mahlzeit eine minimalistische Version eines Gesellschaftsvertrags: Ich komme rechtzeitig, ich verschwende Essen nicht, ich höre mir an, was ihr erlebt habt.

Aber dieselbe Szene lässt sich auch anders lesen. Am Esstisch werden Normen eingerichtet und sanktioniert: Was man isst, wie man sitzt, wer wann wie viel redet, wen man ausreden lässt. Die Familienmahlzeit ist ein Disziplinierungsinstrument im guten wie im schlechten Sinn. Sie kann Kindern beibringen, dass ihre Geschichten wichtig sind, ihnen jemand zuhört. Sie kann ihnen aber auch beibringen, dass sie falsch sind, zu laut, zu wenig dankbar. Wer das Abendessen verklärt, übersieht leicht, mit wie vielen erniedrigenden Momenten es verbunden sein kann: der Kommentar über den Körper, über die Mathe-Note, das „Dein Bruder isst aber, schau mal“, der Witz auf Kosten des Teenagers.

Wer heute „Abendessen ist fertig!“ ruft …

Vielleicht liegt genau darin die Ambivalenz, die den Verzicht aufs Abendessen erleichtert. Schon klar: eine Gesellschaft, in der jeder allein mit seinem Screen vor seinem Essen sitzt, ist nicht besonders attraktiv. Auf der anderen Seite ist es ermüdend, sich schuldig fühlen zu sollen, weil es statt frisch gekochtes Essen am großen Tisch Tiefkühlpizza für jeden gibt.

Die Auseinandersetzungen über das Abendessen sind Stellvertreterdebatten. Es geht um Zeit, Geld, Care-Arbeit, Mental Load, Elternschuldgefühle, um die ästhetische Inszenierung von „Familie“ – vom Instagram-tauglichen Tisch mit Leinenservietten bis hin zur beeindruckenden Brotdose im Kindergarten. Wer heute „Abendessen ist fertig!“ ruft, ruft nicht nur Kinder zum Tisch, sondern auch Diskurse.

Und die Kinder selbst? Sie erleben das Abendessen oft viel banaler. Für kleinere ist es der Moment, in dem endlich alle da sind und jemand zuhört. Für Jugendliche ist es eine lästige Unterbrechung eines superwichtigen Chatverlaufs. In Befragungen sagen Teenager, sie würden eigentlich gerne häufiger mit der Familie essen, wenn es seltener Streit über Noten und Bildschirmzeit gäbe. Es ist nicht die Existenz des Rituals, die entscheidet, wie gut es tut, sondern sein Ton.

Vielleicht ist der Verzicht aufs tägliche Abendmahl also eine durchaus vernünftige Entscheidung. Er entschärft den moralischen Imperativ, den Druck, jeden Abend performen zu müssen und nimmt dem Essen symbolische Überfrachtung. Doch für solchen Pragmatismus muss man mit einer gewissen Melancholie bezahlen, weil in der Vorstellung vom gemeinsamen Abendessen die Sehnsucht nach diesem einen Moment puckert, in dem niemand mehr wegläuft und alle an derselben Realität teilnehmen. In der Wiederholung, im „jeden Tag ungefähr zur gleichen Zeit“, steckt ja auch eine leise Form von Trost: Es geht weiter. Morgen wieder.

Deswegen ist die Angst vor dem Verschwinden des gemeinsamen Abendessens so diffus wie berechtigt. Jedes könnte das letzte Abendmahl gewesen sein: das letzte Mal, dass alle noch im Haus wohnen, die letzte Phase vor dem Auszug, das letzte Weihnachten, in dem niemand in einer anderen Stadt studiert oder schon eigene Kinder hat. Das Abendessen ist eine Bühne, auf der Abschiede inszeniert werden, bevor sie stattfinden.

Bis dahin wird es so weitergehen wie jetzt: mit Eltern, die sich schlecht fühlen, wenn sie es nicht schaffen, ein „richtiges Abendessen“ aufzutragen, obwohl sie seit zwölf Stunden funktionieren; mit Familien, die den einen Abend in der Woche, an dem alle zu Hause sind, verklären und überfrachten; mit Jugendlichen, die beim Essen genervt sind, aber Jahre später spüren, dass diese langweiligen Abende ihnen etwas gegeben haben, eine Ahnung von Zugehörigkeit.

Vielleicht lohnt es sich also, hin und wieder ein bisschen Theater zu machen: Tischdecke, Kerze, alle Handys weg, Desserts für alle. Nicht, weil es die Kinder vor allem Bösen schützt, sondern, weil es eine von den wenigen Gelegenheiten ist, in denen jemand „erzähl mal“ sagen kann – und ein anderes Familienmitglied mit vollem Mund antwortet.

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