Seit diesem Schuljahr ist Heinrich von Kleists „Der zerbrochne Krug“ Abiturstoff in Bayern. Lernt man bei diesem über 200 Jahre altem Lustspiel noch etwas fürs Leben und nicht nur für die Schule? Allerdings! Wenn die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik die Posse um den Dorfrichter Adam auf die Bühne bringt, sollten junge Menschen ganz genau hinschauen. Von MeToo bis zur neuen Wehrpflicht dürfte den Abiturienten das Drama nämlich näher sein als man bei Schullektüre gemeinhin denkt. So zeitlos und aktuell wie am Münchner Residenztheater sieht man Kleist heute selten.

Wie oft bei Koležnik, erzählt bereits das Bühnenbild, worum es an dem Abend geht. Mit dem Bühnenbildner Christian Schmidt verwandelte sie „Antigone“, ebenfalls am Münchner Residenztheater, in ein cleveres Vexierspiel von Ein- und Ausschluss. So ähnlich in „Der zerbrochne Krug“: Immer wieder dreht sich die in dunklen Brauntönen gehaltene Bühne und zeigt so einerseits die schmucklose Amtsstube, wo juristisch prozessiert wird, und anderseits die schummrigen Gänge auf der Rückseite, wo abseits der Paragrafen verhandelt wird. In diesem Aufbau hat das Recht eine unerhellte Kehrseite.

An diesem Abend liegt alles im Halbdunkel, alle erscheinen zwielichtig: Oliver Stokowski als ramponierter und sich windender Dorfrichter trifft mit seinem Gegenspieler, dem von Steven Scharf gespielten Gerichtsrat Walter, nicht auf einen strengen Aufklärer, sondern vielmehr auf sein Spiegelbild. Der Revisor hat sich selbst einige Blessuren zugezogen, deren Erklärung („vom Pferd gefallen“) nun so glaubhaft wirkt wie die des Richters („auf den Ofen gefallen“). Korrupt erscheint hier nicht der Einzelfall, sondern das System – und die Antikorruptionskampagne nur als moralische Fassade konkurrierender Cliquen.

Ein wahrer Wendehals ist auch der Schreiber Licht, den Moritz Treuenfels pointiert als berechnenden Opportunisten spielt. Erst hilft er dem Richter noch bei der Vertuschung, doch sobald sich der Wind dreht, präsentiert er sich als aufrichtiger Anwalt der vor dem Gesetz Zu-kurz-Gekommenen, schaut dabei aber auffällig oft zum Gerichtsrat, den er nun als neue Autorität in der Befehlskette auserkoren hat. Überhaupt hat Koležnik wie üblich ein feines Geflecht an Bewegungen und Blicken gesponnen, sodass das Publikum aufgefordert ist, den Amtspersonen auf der Bühne sehr genau auf die Finger zu schauen.

Und dann gibt es noch das einfache Volk, von Ana Savić Gecan in ausladende Kostüme gesteckt, zudem in zur Bühnenumgebung passenden dunklen Farben. Wie angepasst oder überangepasst die Dorfbevölkerung ist, zeigt die von Hanna Scheibe gespielte Nachbarin, die lieber den Teufel beschwört, als den vertrauten Richter als Urheber des Scherbenhaufens bei Eve zu verdächtigen. Ihr Aberglauben findet reichlich Anklang beim Volk. Allerdings erscheinen diese außerweltlichen Theorien über innerweltliche Vorgänge hier als Folge von Abwehr und Verleugnung, nicht als Überbleibsel alter Zeiten.

Es gibt nur eine Person in diesem Halbweltgeschehen, die sich am Ende ins Licht spielt – und dafür den Preis zahlen muss. Ganz allein steht Lea Ruckpaul als Eve im hellen Strahl, während die licht- und aufklärungsscheuen Gestalten um sie herum längst in die dunklen Gänge geflüchtet sind. Von ihrer Mutter (Katja Jung) verachtet, von ihrem Freund (Pujan Sadri) verlassen, kann diese junge Frau gar nicht anders, als die Wahrheit über das System auszusprechen, in dem sie immer die Betrogene ist: ein geknechtetes, verächtliches und verlassenes Wesen. Auch wenn diese Wahrheit sie selbst beschädigt, weil sie den korrupten Richter bewegen wollte, ihren Freund vorm Militärdienst zu retten.

Den Schluss, den Kleist bekanntlich nach dem Weimarer Uraufführungsdebakel (Regie damals: Goethe) umfassend umgearbeitet hat, haben Koležnik und Ruckpaul mit Rückgriff auf die heute Variant genannte Erstfassung abermals etwas umgeschrieben. Keine Flucht des Richters, keine Versöhnung mit Ruprecht, sondern ein scharfer und klarer Monolog, der es in sich hat. Ruckpaul, die kürzlich als Autorin mit ihrer Nabokov-Fortschreibung „Bye Bye Lolita“ für Furore sorgte und am Residenztheater auch den MeToo-Monolog „Prima Facie“ spielt, macht Eve zur Lichtgestalt in dunklen Zeiten.

Eve macht keinen MeToo-Skandal und keine moralische Frage aus dem, was ihr widerfahren ist. „Statt jetzo schelten richterliche Niedertracht, nutz ich sie aus“, versucht sie, sich zu erklären. Ihr Freund Ruprecht, vom Los der Wehrpflicht getroffen, muss nämlich angeblich sogar ins ferne Batavia, das heutige Jakarta, wo der Tod durch Tropenkrankheiten droht. Eve redet ihrem Freund politisch ins Gewissen. „Willst deine Haut riskieren, ach wofür?“, sagt sie. „Den Krieg bezahl’n die kleinen Leute.“ Und über die Auswirkungen des niederländischen Kolonialreichs für ihresgleichen sagte sie: „Gestohlen ist dem Land die schöne Jugend, um Pfeffer und Muskaten einzuhandeln.“

Blöderweise will ihr Freund von Eves Reden nichts wissen – und auch ihre Mutter hat wenig Verständnis für den Deal „List gegen List“. Beide reden sie von Ehre, wo es doch um Macht und Interessen geht. Eve ist da den entscheidenden Schritt weiter, der sie von allen entfremdet. „Ich bin im Krieg schon, denk ich, noch zu Friedenszeit“, sagt sie. Und lässt Ruprecht am Ende noch wissen: „Mein Körper war ja unterworfen stets der Mutter, Arbeit und Dressur. Nun, wo eigenmächtig ich den selbigen für Dich verschleudert habe, da erst begreif ich, dass ich wohl gestern Nacht zum ersten Mal mir selbst gehörte.“

Eve ist zwar ein Opfer, weil sie erpressbar ist, aber sie ist kein Opfer, weil sie handelt. Vor allem will sie kein Opfer bleiben, es drängt sie zur rücksichtlosen Erkenntnis. Über die ungleiche Rückseite der Gleichheit des Rechts. Über eine Zeit, in der die Kriegsaktien steigen und der Kurs der Körper fällt: Männer als Kanonen- und Frauen Männerfutter. Über ein korruptes System, in dem kleine Leute mit „List gegen List“ nichts zu gewinnen haben. Sie weiß nun, womit Freiheit beginnt. Mit der Freiheit, sich zu verkaufen. Ein Zurück gibt es nicht: Emanzipation heißt Einsamkeit – und Abschied vom Moralisieren.

Wie leichtfüßig komisch, wie analytisch scharf und wie inszenatorisch präzise Mateja Koležnik den Kleist auf die Bühne bringt, ist sensationell. Bei der Premiere gab es ausdauernden Applaus für das Team und das Ensemble. Und die Schulklassen, die es in Vorbereitung auf ihr Abitur zu diesem „Krug“ verschlägt, dürften sich noch verwundert die Augen reiben, dass sie hier auch auf ihre „kriegstüchtige“ Zukunft mit neuem Wehrdienst und Losverfahren vorbereitet werden. Und sich beim Schlussmonolog fragen, ob Aufklärung nicht auch für die Gen Z ein besserer Ratgeber für rauere Zeiten ist als bloße Empörung.

„Der zerbrochne Krug“ läuft am Residenztheater München.

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