Die Freiheit der Kunst ist eine schöne, wenngleich historisch erstaunlich junge Idee. Vor der Moderne war Kunst weder frei noch egalitär. Über Jahrhunderte hing nahezu die gesamte europäische Kunstproduktion von einer feudalen Oberschicht ab. Ohne die Gunst von Fürsten und Prälaten hätte es keine Künstler gegeben; ohne Paläste, Schlösser und Kirchen, die ausgestattet werden wollten, wären kaum Kunstwerke entstanden. Die Stilgeschichte von der Renaissance bis zum Rokoko wäre undenkbar ohne den Repräsentationswillen der Monarchen, Aristokraten und des Klerus – und ihr reichlich fließendes Geld.
Im Barock traten erste Kaufleute, im 19. Jahrhundert dann verstärkt auch Bankiers, Industrielle und Verleger auf den Plan. Im 20. Jahrhundert setzte sich das Modell durch, das uns heute selbstverständlich erscheint: Galerien verkaufen Kunst, Sammler und Stiftungen kaufen sie, Museen stellen sie aus. Die Kunstwelt ist ein im Kern bürgerliches System – doch genau diese Epoche scheint gerade zu Ende zu gehen.
Neue aristokratische Internationale
Ein Blick in die aktuelle Liste „Power 100“ – das englischsprachige Magazin „ArtReview“ kürt jedes Jahr die einflussreichsten Personen des globalen Kunstbetriebs – bestätigt den Trend: Auf Platz 2 rangiert Scheicha Al-Mayassa bint Hamad bin Khalifa Al-Thani, die Schwester des amtierenden Emirs von Katar. Eine Frau, die laut Jury „die Fähigkeit – und die Mittel – besitzt, das Unmögliche möglich zu machen“. Vor einigen Jahren stand sie bereits auf Platz 1. Es war die Zeit, als sie nahezu jede große Kunstmesse besuchte und mit unermesslichem Budget für die wachsende Museumslandschaft von Doha einkaufte.
Mit der Sammlung wuchs der Einfluss. Neuestes Stück im katarischen Kunstportfolio ist der eigene Länderpavillon auf der Biennale von Venedig. Das Emirat darf nach einer großzügigen Spende an die Lagunenstadt in bester Lage bauen, obwohl die Giardini offiziell „seit Jahrzehnten voll“ sind. Scheicha Al-Mayassa ist die Architektin einer nationalen Soft-Power-Strategie, die Kultur gezielt einsetzt, um Katar auf der globalen Landkarte neu zu positionieren: von den gigantischen Museen bis zur Art Basel, die 2026 erstmals eine Messe in Doha veranstalten wird.
Auf Platz 3 folgt Scheicha Hoor Al Qasimi aus dem Nachbaremirat Schardscha, das zu den Vereinigten Arabischen Emiraten gehört und in dem Staatenbund traditionellerweise für die Kultur und Brauchtumspflege zuständig ist. Auch sie ist keine Unbekannte, aber in der Liste wieder weit nach oben gestiegen. Die französische Zeitung „Le Monde“ bezeichnete die Tochter des Emirs als „Botschafterin der Emirati Soft Power“.
Scheicha Hoor hat in London studiert, führt das Modelabel ihres verstorbenen Bruders weiter und kuratiert weltweit gefeierte Biennalen, von Schardscha über Sydney in Australien bis Aichi in Indien – mit Budgets, von denen westliche Institutionen nur träumen. Die Vereinigten Arabischen Emirate hoffen nun, mit dem Einstieg der Frieze in Abu Dhabi als Kunstmesse-Standort künftig kulturell noch stärker mitzuregieren.
Dass Badr bin Abdullah Al Saud – Mitglied der saudischen Königsdynastie – auf Platz 21 rangiert, dürfte im Wettbewerb zwischen den Golfstaaten eher Ansporn als Kränkung sein. Der amtierende Kulturminister des Königreichs Saudi-Arabien hat mit Kronprinz und Premierminister Mohammed bin Salman gemeinsam studiert. Dessen Regierung platziert sich mit riesigen Kulturspektakeln – etwa in der Oase Al-Ula – ebenfalls auf der globalen Kunstlandkarte.
Erst hinter diesen potenten Herrschern folgt der Geldadel: Nur noch im Mittelfeld zu finden sind Bernard Arnault und François Pinault, obwohl sie ihre Privatmuseen in Paris und Venedig zu zeitgenössischen Tempeln der Kultur ausgebaut haben.
Die Liste zeigt: Während westliche Staaten sparen, öffentliche Museen darben und Kulturkämpfe die Institutionen lähmen, steigen autokratische und aristokratische Systeme zu neuen Schaltstellen im globalen Kunstbetrieb auf. Kunst wird wieder ein höfisches Instrument – für Reputation, geopolitische Positionierung, Diversifikation der Ökonomien, als milliardenschweres Ablenkungsprogramm.
Multipolares Weltbild – oder höfische Regression?
Während Demokratien über Kulturhaushalte streiten, investieren die monarchischen Golfstaaten dreistellige Milliardenbeträge ins Museumsglück. Die Macht folgt dem Geld – und die Kunst folgt der Macht. Alles wie früher. Beschreibt „ArtReview“ damit lediglich die Symptome einer multipolaren Welt? Oder schreibt das Magazin bereits an der neuen Machtarchitektur mit?
Die Liste suggeriert jedenfalls, dass sich das Zentrum der Kunstwelt wegbewegt vom westlichen Kulturkapitalismus der Nachkriegszeit – hin zu oligarchischen, aristokratischen, teils neokolonialen Strukturen. Mit eigenem Hofstaat: Mäzeninnen, Kulturminister, Herrscher und Milliardäre, die nicht nur Material brauchen, um ihre Museen, Paläste und Residenzen zu füllen, sondern auch das Personal zur Pflege ihrer Befindlichkeiten. Ironischerweise markiert diese neue Epoche die Rückkehr der ältesten Ordnung, die die Kunstgeschichte kennt. Die Zukunft der Kunst wirkt plötzlich erstaunlich vormodern.
Und wer steht an der Spitze der Liste? Ein Künstler. Der 1987 geborene Ghanaer Ibrahim Mahama – mit seinen ikonischen Jutesack-Installationen war er sowohl auf der Venedig-Biennale als auch auf der Documenta vertreten. Mahama thematisiert in seiner Kunst die ökonomischen Verwerfungen des globalisierten Kapitalismus – und ist damit selbst ein „Blue-Chip-Künstler“ geworden.
Er passt damit ironischerweise perfekt in ein System, das neue Machtzentren hervorbringt – und zugleich Künstler belohnt, die ein Problembewusstsein bieten, das in Museen und Pavillons gut aussieht. Mahamas Ästhetik kritisiert jene Kräfte, die sie gleichzeitig finanzieren. Auch das: ein alter höfischer Mechanismus.
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