Er war ein Chronist des Alltäglichen und einer der erfolgreichsten Fotografen der Welt. Parrs oft farbgesättigte Aufnahmen hielten die britische Gesellschaft fest, wenn sie sich unbeobachtet wähnte: beim Anstehen für Eiscreme, beim Kirchgang, am Strand, bei Gartenpartys oder beim Mittagschlaf auf dem Parkplatz. Es sind selten die feinen Leute und nie stilsichere Models gewesen, die Parrs Fotografien bevölkern.
Seine Protagonisten lesen Revolverblätter und trinken am Strand zuckrige Sodas aus übergroßen Plastikflaschen. Sie lassen sich in der Sonne verbrennen. Das Groteske des Lebens in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft wurde in Martin Parrs Aufnahmen weder denunziert noch höflich unter den Teppich gekehrt. Es blickt einen direkt an – auch, weil Parr die Gabe besaß, nirgends aufzufallen.
Nie hämisch, immer mit Witz – Martin Parrs Vermächtnis
Geboren am 23. Mai 1952 im englischen Epsom, Surrey, studierte Martin Parr Anfang der 1970er-Jahre Fotografie in Manchester. In den 1980ern wechselte er von präzise abstrahierender Schwarz-Weiß-Fotografie zur Farbe – einem Medium, das damals in der Kunst noch nicht etabliert war, in der Reportagefotografie jedoch längst seinen Platz gefunden hatte. Und ein Reporter war Parr, immer auf der Suche nach der Wirklichkeit.
Doch was ist diese sogenannte Wirklichkeit? Dass jeder Blick subjektiv ist und seinen Urheber verrät, zeigen Parrs Bilder. Sie sind oft von kräftigen Farben und starkem Licht durchdrungen, das die Eigenheiten und kleinen Blößen der Menschen sichtbar macht – nie hämisch, immer mit spielerischem Witz.
Der Fotoband „The Last Resort: Photographs of New Brighton“ zeigte Urlauber der Arbeiterklasse in dem bekannten britischen Ferienort und markierte eine Wende vom strengen, ernsten Schwarz-Weiß hin zu einer frecheren, farbintensiveren Bildsprache. Parrs Fotos dokumentierten keine politischen Ereignisse, ließen einen aber umso tiefer in die Zeit eintauchen, in der sie entstanden.
„The Cost of Living“ (1986–1988) fing Großbritannien in einer Phase des Umbruchs und der Unruhe ein – ein fotografischer Essay über den Aufstieg der Mittelschicht unter der Regierung Thatcher. 1996 widmete er sich mit „SMALL WORLD“ der globalen Tourismuskultur, die jede Illusion von Abenteuer, Entdeckung oder Fremdsein unter dem Massenandrang erholungswilliger Pauschaltouristen begräbt und dabei doch eine gewisse Freude spendet.
Insgesamt erschienen mehr als 60 Fotobücher von Martin Parr – selbst im Krankenhaus hörte er nicht auf zu fotografieren. Seine Beobachtungen haben nichts Didaktisches oder vordergründig Politisches – auch wenn sie viel über die Gesellschaft verraten, in der sie entstanden sind.
Seit 1987 in der Hafenstadt Bristol lebend, wurde Parr 1994 Mitglied von Magnum Photos, der bedeutendsten Fotoagentur der Welt; von 2013 bis 2017 war er sogar ihr Präsident. Anders als viele Fotokünstler dachte er weniger in Einzelbildern, sondern in Serien und Projekten, die als Bücher erschienen und dieses Genre prägten. Seine eigene Sammlung von Fotobüchern verkaufte er an die Londoner Tate Gallery.
Mit dem Erlös gründete er die Martin Parr Foundation, die eine Bibliothek und Ausstellungsräume umfasst. Ihr Ziel ist die Förderung von Fotografen, die sich in ihrem Werk auf Großbritannien und Irland konzentrieren. Vergangenes Jahr erschien unter dem Titel „Utterly Lazy and Inattentive: Martin Parr in Words and Pictures“ eine bebilderte Autobiografie.
Wie die Martin Parr Foundation bekannt gab, verstarb Parr am 6. Dezember 2025 im Alter von 73 Jahren in seiner Heimatstadt Bristol; seit 2021 litt er an Knochenmarkkrebs. Er hinterlässt seine Frau, seine Schwester, eine Tochter und einen Enkel.
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