Fangen wir mit dem Alter an, das darf man in diesem Fall. Denn Sabine Meyer, deutsche Klarinettistin, die für sehr viele Menschen seit Jahrzehnten Solosinnbild auf diesem lange nicht so und schon gar nicht von einer Frau in den Mittelpunkt gerückten Instrument, hat es selbst zum Thema gemacht. Sabine Meyer ist 66.
Was man ihr keinen Moment ansieht. Die getönten Haare fallen locker, die Gestalt ist schlank und sehnig, Bewegungen und Gestik wirken immer noch jungmädchenhaft. Die im fränkisch geprägten Crailsheim aufgewachsene, in Lübeck lebende Württembergerin steht gefühlt schon ewig im hellsten Scheinwerferlicht, ist Profi durch und durch. Und trotzdem wird da immer noch dieser Erwartungsdruck spürbar, eine Nervosität, die freilich schon beim ersten Ton abfällt, der sich ebenmäßig, rund und kostbar im ihr bestens bekannten Konzertsaal von Schloss Elmau ausbreitet.
Dort hat Sabine Meyer dieses Jahr mit Musizierfreunden die traditionelle Kammermusikwoche gestaltet. Einer von vielen Höhepunkten in einem besonderen Jahr: ihrem letzten als Soloklarinettistin. Sie hat es selbst so gewollt. Die Offerten sind immer noch üppig, niemand hat von ihr und ihrem geradlinig fantasievollen, verlässlich virtuosen Spiel genug. Auch sie selbst hat noch Spaß. Aber sie findet, ganz mit sich im Reinen: Es ist genug. Nach weit über 50 Jahren am Instrument.
„Die Mundmuskeln werden schlaffer und schneller müde, das Atmen ist nicht mehr so leicht. Die Routine beflügelt mich zwar noch. Aber ich habe doch alles erreicht, überall gespielt, das Repertoire durchforstet. Ich möchte jetzt endlich an mich und nicht an den Tourplan denken. Ich finde es aufregend, nach so vielen, durch den Beruf und seinen jahrelang voraus festgelegten Terminplan meinen eigenen Rhythmus finden. Ich will meinen Hof genießen, mit meinem Mann, den Kindern und vier Enkeln sowie dem Hund zusammen sein. Und wieder Klavier üben.“
Da hat jemand noch sehr viele Pläne. Und möchte die rechtzeitig angehen, sich ihnen stellen. Nicht erst, wenn man nicht mehr gewollt wird oder zu alt ist.
„Der Einschnitt jetzt, der ist richtig, er fühlt sich gut an“, sagt Sabine Meyer. Sie sagt das souverän, scheint loslassen zu können, weil sie das Plateau, auf dem sie sich so lange gehalten, immer wieder neu formatiert hat. Sie hat es noch keinen Tag bereut, seit sie es verkündet hat. Und jetzt genießt sie diese letzte Runde – an vertraute Orte, mit gemochten Kollegen, vielfach neu ausgedeutetem Repertoire. In Elmau sitzt Meyers Mann Reiner Wehle, auch Klarinettist, der oft mit ihr die Bühne geteilt hat, ebenso im Saal wie ihre langjährige Agentin Cornelia Schmid, die ebenfalls längst ihre Agentur übergeben hat und trotzdem immer noch gern an den Konzerten ihrer ältesten Klientin genießend teilnimmt.
„Es war schön und traurig und befreiend“
Von den Solokonzerten hat sich Sabine Meyer schon im letzten Jahr verabschiedet, die ewigen Hits ihres Instruments, die Konzerte von Mozart und Weber, hat sie im Salzburger Mozarteum und in Bregenz letztmals vom Rohrblatt gelassen, das sie ebenfalls bald nicht mehr selbst schnitzen muss. „Es war schön und traurig und befreiend zugleich, ich habe es sehr genossen“, erinnert sie sich. „Wobei ich drauf geachtet habe, gerade diese Werke nicht zu oft und dauernd hintereinander anzusetzen, denn die sollte man sich ein Klarinettistenleben lang einigermaßen frisch halten.“ Aber 450 Mal Mozart sind es dann doch geworden, ergänzt ihr für die Statistik zuständiger Mann.
Jetzt hat sie nur noch Kammermusik gespielt, in wechselnden Formationen, nochmals mit allen ihr lieben Kollegen. Sie war ein letztes Mal in den ihr wichtigen Großstätten, aber auch auf dem Land, gleich zweimal bei der geliebten Schubertiade in Schwarzenberg und Hohenems, auch mit dem Hagen-Quartett, das ebenfalls nächstes Jahr seinen Dienst einstellt. Und sie selbst wird nach einem „Winterzauber“-Konzert in Bern am 15. Dezember ihre Klarinetten und Bassetthörner endgültig beiseitelegen; letztmalig ist sie mit dem Alliage Quintett zu erleben, mit vier Saxofonen und Klavier.
Auch diese Kombination zeigt: Sabine Meyer, eine der verlässlichsten Marken der Klassikwelt, immer eine vollendete, gern in schick sich bauschend faltenden, dabei so praktisch im Koffer zu verstauenden Issey-Miyake-Blusen und -Jacken, ist nie stehen geblieben. Sie hat sich, obwohl sie bequem bei ihren Klassikern hätte bleiben können, nie mit dem normalen Repertoire beschieden, gern neue Klangkombinationen wie Werke ausprobiert.
„Ich bin neugierig“, sagt sie. „Ich wollte nicht auf einem Niveau verharren, Grenzen ein wenig erweitern, auch mit meinem Namen die Musik ein wenig weiterbringen. Wir Klarinettisten haben schöne Kammermusik, genügend Bearbeitungen, aber zu wenige Solokonzerte, also müssen neue her, und dann sehen wir, was sich davon durchsetzen wird. Ich habe auch Jazz gespielt, immer wieder neue Bearbeitungen mit dem Trio di Clarone, wo mein Mann und mein verstorbener Bruder dabei war.“ Und sie hat mitgeholfen das Bassetthorn, das in F transponiert, also eine Quinte tiefer als notiert klingt, und die Bassettklarinette, für die Mozart sein Solokonzert ursprünglich geschrieben hatte, wieder in den Betrieb einzugliedern.
Beruflich konnte sich Sabine Meyer also auch vieles selbst erproben, etwas ausprobieren, weil es ja, anders als bei Klavier, Geige, Cello kaum Vorbilder gab, keine Modellkarrieren, kein riesiges Repertoire, das man halt beherrschen muss, wo man aber auch verschiedene Pfade einschlagen kann. „Bei mir war immer Terra inconginta. Ich habe oft, im Austausch mit meinem Mann und meinem Bruder, Dinge diskutiert, was könnte funktionieren, wie können wir das Spektrum der Klarinette erweitern, das war Ausprobieren und Learning by Doing. Vieles hat funktioniert, manches nicht.“
Mit Interviews kommt Sabine Meer, die früher ein scheues Reh sein konnte, inzwischen souverän klar. „Ich mache inzwischen meine Ansagen selbst“, sagt sie und lacht. „Aber auf der Bühne, eine Stunde vor dem Konzert, war sie immer schon im Wahnsinn versunken“, erzählt ihr Mann. „Da konnte man nichts machen. Und sobald die Bühnentür aufgeht, ist sie ein anderer Mensch. Da freut sie sich, sieht dieses Publikum und wird ruhig. Du hast ja auch mal gesagt, dass du normalerweise in dem Moment ruhiger wurdest. Es ist die klassische Lampenfieber-Situation. In dem Moment, wo es losgeht, ist es im Idealfall weg.“
Doch immer noch wird deutlich, dass sich Sabine Meyer im Kollektiv, etwa in den zehn ersten Jahren von Claudio Abbados Lucerne Festival Orchester, auch an der Seite ihres Mannes, am wohlsten fühlt. Ein Paradox. Ihr Vater war Klarinettist, die Familie hatte einen Musikalienhandel, der Bruder hatte das Instrument erlernt. Es führte für sie, die auch Geige und Klavier spielt, kein Weg daran vorbei. Sie war zudem sehr schnell und immer, im familiären Musikumfeld, beim Studium in Stuttgart und Hannover, die Beste und Wettbewerbserste. „Solistin aber wollte ich nie sein“, sagt sie, die schon mit elf Jahren im Bundesjungendorchester spielte, wo das Altersminimum schon damals eigentlich 14 war.
„Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen“
Sie wurde es allerdings und sehr sichtbar, nach einer kurzen Lehrzeit als Soloklarinettistin im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, durch einen Skandal, den sie noch heute abwiegelt und am liebsten übergehen möchte. 1982 drückte sie Herbert von Karajan mithilfe seines damaligen Intendanten gegen den Willen der Musiker auf der Ersten Solostelle der Berliner Philharmoniker durch, sie wurde zum Spielball der Interessen und sich verschlechternden Verhältnisse zwischen altersstarrem Chef und einem sich emanzipierenden Eliteklangkörper. So wurde sie wider Willen zum Anfang vom Ende der Ära Karajan, ein Trauma fast; nach neun Monaten in dieser vergifteten Atmosphäre hatte sie genug, kündigte und erfand sich nun doch als Solistin wieder.
Die Reiner Wehrle heiratete, den sie kannte, seit sie 17 war, bald zwei Kinder bekam. „Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn eines krank war und ich trotzdem schon wieder meine Koffer packen musste. Doch ich habe in diesen Jahren auch beruflich reduziert, nur kurze Reisen unternommen. Ich habe das durchgesetzt, aber es war ein beständiger Druck, auch weil ich ehrgeizig bin, auch in dieser Zeit Neues erproben wollte.“ Und sehr viel eingespielt hat sie auch, als Exklusivkünstlerin der EMI arbeitete sie sich durch das Repertoire, entdeckte Raritäten, gab Aufträge. Und sie unterrichtete zudem, bis 2020 teilte sie sich in Lübeck mit ihrem Mann eine Professorenstelle.
Die beiden sind ein gutes, unmerklich aufeinander reagierendes, sich elegant ergänzendes Team. „Nein“, sagt Reiner Wehrle, der sich bis heute ganz offensichtlich am Rang seiner Frau erfreut, er sei nie eifersüchtig gewesen, man funktioniere als Tandem. Er habe auch andere Stärken als seine Frau – die sofort und sehr entspannt beipflichtet.
„Die Klarinette gab mir die größten Erfolge“, sinniert Sabine Meyer und schaut hinüber zu dem auf dem Tisch liegenden schwarzglitzernden Holzstück, das ihr Verlängerung ihres Körpers wurde, fast ein menschliches Organ, auch wenn die Einzelstücke naturgemäß wechselten. Obwohl es kein Kinderinstrument ist, Zähne und längere Finger müssen erst gewachsen sein. Wie wird es sich ohne dies anfühlen? „Ich weiß es nicht. Mag sein, dass da ein Phantomschmerz kommt, dass ich diesen, von mir selbst erzeugten Ton zunächst vermissen werde. Aber ich freue mich auf so vieles anderes, Buntes, Aufregendes, Unbekanntes.“
Wäre Sabine Meyer im Orchester geblieben, sie würde jetzt ebenfalls in Rente gehen. Zufall? „Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Ich dachte lange, das müsste mein Traum sein. Mir würde aber, wenn ich auf die letzten 45 Jahre blicke, doch sehr viel fehlen, denn alles Stressige vergesse ich schnell. Was bleibt, das sind letztlich unbeschreibliche Glücksmomente. Die oft unverhofft, in einem eigentlich normalen Konzert sich einstellten, weil plötzlich alles perfekt war.“ Also doch ein wenig Dankbarkeit für die folgenschwere Fehlentscheidung des Herbert von Karajan.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.