Manchmal möchte man Wilhelmine Klemm sein. Je älter man wird, desto öfter erwischt man sich dabei. Nicht der wilden schwarzen Mähne wegen oder der vor sich hin bröselnden Stimme aus dem Abgrund oder der Nikotinsucht. Sondern weil sie sich hinsetzt, seit 23 Jahren tut sie im „Tatort“ als Staatsanwältin in Münster ihren Dienst, und in all ihrer Eleganz sagt, dass sie zu alt ist für diesen Scheiß. Das geschieht in Minute 68. „Die Erfindung des Rades“ heißt der Fall, in dem sie es sagt.

Scheiß war er bis dahin allerdings wirklich nicht. Kommt eher einer Weisheit nahe, die noch älter ist als Mechthild Großmann, die Wilhelmine Klemm ist im Münsteraner „Tatort“. Wenn’s am Schönsten ist, soll man gehen, heißt die Weisheit. Schön ist es für Willi – von ihrem Kosenamen wussten wir bis „Die Erfindung des Rades“ auch nichts –, und für Boerne und Thiel und Alberich und Vadder und das Schraderchen, der diesmal gar nicht arme Assistent.

Für das ganze Team vom Aasee in Münster. Das ging noch nie derart auf Augenhöhe miteinander auf Mörderjagd wie in der Geschichte, die Thorsten Wettcke geschrieben und Till Franzen inszeniert hat. Klemms Kommissariat kommt einer Wärmestube schon sehr nahe. Was es auch braucht: Es geht um eine tiefgefrorene Leiche.

Und das kam so: Münster – 410.000 Fahrräder bei 310.000 Einwohnern und 150.000 Autos – ist eine Radlermetropole. Das weiß eigentlich jeder, wenngleich er noch nie in Münster war. Dass noch kein Sonntagabendkrimi (nicht mal der ebenfalls in der Westfalengroßstadt beheimatete „Wilsberg“) aus Münster Drahtesel zum Zentrum hatte, ist natürlich ein Skandal. „Die Erfindung des Rades“ schreibt also Geschichte (in doppelter Hinsicht, aber dazu später) und beginnt in einem höchsteleganten Schwarz-Weiß und im Jahr 1882.

Das erste Fahrrad

Da wird ein Mann erschossen in seinem Radladen. Kurt Hobrecht heißt er. Eine Skizze bringt er noch in Sicherheit, bevor der Mörder mit dem markanten Schnurrbart Hobrechts Souterrain-Werkstatt abfackelt. Die Skizze eines Fahrrades mit zwei gleich großen Rädern und Pedal-Kette-Antrieb, das verteufelt jenem Rad ähnelt, das John Kemp Starley zwei Jahre später in Coventry als „Rover Safety Bicycle“ präsentierte, das als Urvater aller Velos gilt.

Fast anderthalb Jahrhunderte, damit beginnt „Die Erfindung des Rades“ in der Gegenwart, lag die Skizze ungefunden im Keller der Hobrechts. Dann ändert sich alles. Hobrecht baut das „First Bike“, bekommt Ärger mit Kemp Starleys Erben. Was nicht das Schlimmste ist, weil bei der Präsentation des nachgebauten Fahrrad-Urmeters statt eines Zweirades die tiefgekühlte Leiche von Albrecht Hobrecht aus der Kiste fällt. Der war das schwarze, aber aufgrund finsterer Geschäfte mit diversen Diktatoren dieser Welt auch schwerreiche Schaf der Familie.

Vielleicht schieben wir an dieser Stelle einen kleinen Exkurs ein. Das Münsterland ähnelt wie wahrscheinlich keine Gegend in Deutschland Midsomer, der idyllischen Gegend um Oxford, in der Inspector Barnaby seine Mörder jagt. Und nicht die schlechtesten aller Münsteraner „Tatort“-Folgen erzählten Geschichten, die auch in Nettlebed und Crocker End erzählt werden.

Geschichten, in denen sich Phänomene, Festivitäten, Familien der Region radikalisieren. Geheimnisse von Familien wie den Hobrechts. Die seit Jahrhunderten von Zwistigkeiten, Bruderkriegen, von Missgunst, Neid und dem Unterdrücken der Hobrecht-Frauen zusammengehalten werden. „Die Erfindung des Rades“, in dem der klassische Whodunit nicht neu erfunden, aber interessant neu interpretiert wird, ist – wie die besten Münsteraner Fälle – eine erzbritische Erzählung.

Eine dysfunktionale Dynastie

Im Haus der Hobrechts heißen, von den Finsterlingen abgesehen, alle Kurt und Kasimir und Konstantin und Klara. Alliterationen sind ein Spiel, mit dem es Thorsten Wettcke fast zu weit treibt. Da herrscht Missgunst und Neid und all das, was sich in dysfunktionalen Dynastien halt so ansammelt. Wundert einen fast, dass bisher noch keiner der Hobrechts seit 1882 in seinem Blut lag.

Es kommt nach Albrechts Ableben zu diversen Geständnissen. Zu Rückblenden. Absurden Trinkspielen. Exhumierungen von Toten und von Geheimnissen. Um Rache geht es und um Zusammenhalt. Die „Wand des Wahnsinns“, jene Tafel, an der Fotos von Verdächtigen aufgehängt werden und Karten und Fundstücke, war selten wahnsinniger, die Harmonie zwischen den Münsteraner Urgesteinen selten größer. Jeder trägt zur Ermittlung bei. Es wird sogar gelobt. Dass selbst Professor Karl-Friedrich Boerne, der statt eines angejahrten Kraftfahrzeugs ein Elektro-Bike durch Münster fährt, diese Kunst beherrscht, erschreckt einen fast ein bisschen.

Dann müssen wir kurz zurück zu Wilhelmine Klemm. Die hatte nämlich mal einen Traum. Und eine Liebe. Mit der war sie an allen Hotspots der Aussteigerträume. Hätte sie fast geheiratet. Es gibt noch einen Ring, der nie getauscht wurde. Fünfzig Jahre ist das her. Er hätte sie schon gezähmt irgendwann. Sagt Kurt Hobrecht heute. In der Klinik. Ihn hat ein Infarkt im Anschluss an das „First Bike“-Desaster beinahe um die Ecke gebracht. Sie schauen sich Bilder an. Schauen sich in die Augen. Etwas ist da noch.

Und dann hat Wilhelmine Klemm einen Plan. Zu dem – und überhaupt für ihren weiteren Lebensweg – wir alles erdenklich Gute wünschen. Wir werden sie vermissen. Allmählich werden wir auch zu alt für diesen Scheiß.

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