Patti Smith ist jetzt 78, an einem Punkt, an dem sie nicht mehr allzu viel Zeit hat, von ihrem Leben zu erzählen. Sie tut es, nach „Just Kids“, „M Train“ und „Im Jahr des Affen“, nun mit ihrem vierten Memoir. „Bread of Angels“ heißt es, und wer die Vorgänger kennt, weiß, was ihn erwartet: keine sauber abgeheftete Lebenschronik, sondern das Mäandern in einem Universum, in dem Schildkröten sprechen können, Dichterworte leuchten und überall Erlösungen aufblitzen.
Dieses Mal geht sie den ganzen Bogen von der ersten Erinnerung im Hochstuhl bis zur Gegenwart einer Frau nach, die sich durch den „beschwerlichen und bezaubernden Prozess des Loslassens“ arbeitet. Dazwischen Jahrzehnte Armut, Kunst, Ruhm, Ehe, Witwenschaft. Genug Stoff für mehrere Leben; sie besteht darauf, dass es eins ist.
Smith wächst in einer eigentümlichen Mischung aus materieller Knappheit und geistigem Überfluss auf, in einem Wohnkomplex für Veteranen mit Blick auf ein Feld und eine Müllhalde. Sie ist ein kränkliches Mädchen, das immer wieder in Quarantäne gesteckt wird, ihre Eltern – eine Kellnerin und ein vom Krieg traumatisierter Fabrikarbeiter, der Gedichte liest – eröffnen ihr nebenbei die Welt der Bücher und der Opernplatten. Draußen Ratten, drinnen Puccini.
Der Mann und der Künstler ihres Lebens
Die Mutter zieht mit den Kindern als Zeugin Jehovas von Tür zu Tür, Patti verschlingt biblische Geschichten und „Vogue“-Hefte, lernt Gebete und entdeckt Picasso. Irgendwann sagt ihr ein Kirchenältester, in Gottes Königreich sei für Kunst kein Platz. Dann eben nicht, denkt sie. Wenn sie etwas glaubt, dann an Rimbaud oder Bob Dylan. Den Rest des Buches kann man als Konsequenz dieser Entscheidung lesen.
Die New-York-Jahre, in „Just Kids“ so leuchtend beschrieben, huschen hier eher vorbei. Ein Bus nach New York, das Chelsea Hotel, die Freundschaft mit Robert Mapplethorpe, ihr Debütalbum „Horses“, das sie berühmt macht. Wichtiger ist ihr, was danach passiert: die Ehe, die Verluste. Im Zentrum von „Bread of Angels“ steht Fred „Sonic“ Smith. Er ist, wie sie schreibt, der „Mann meines Lebens“, während Robert der „Künstler meines Lebens“ bleibt. Die Szene, in der sie ihn zum ersten Mal sieht – an einem weißen Heizkörper, in einem blauen Mantel, an dem ein Knopf fehlt –, ist so überhöht, dass es nur bei ihr nicht peinlich wirkt. „Er legte den Knopf in meine Hand, und ich erklärte ihn wortlos zu einem kostbaren Schatz. Ich fühlte mich stark zu ihm hingezogen; mein Sein war zutiefst erschüttert und schürte mein Verlangen nach dem Einen, dem besseren Wilden. Das Schicksal hatte uns berührt. Ich wusste im selben Moment, dass er der Mann war, den ich heiraten würde.“
Sie gibt das Tourleben, den Rockstar-Mythos, die Stadt auf – nicht als Opfer, sondern als Wahl für das Schreiben, das Lesen, einer Form von Familienleben, die sich als Gegenmodell zur Öffentlichkeit der Karriere und der Sichtbarkeit entzieht. Sie ziehen in ein halb zerfallenes Steinhaus an einem Kanal, kaufen ein Boot, bekommen zwei Kinder, sitzen abends in der Kajüte, „ich mit meiner Thermoskanne Kaffee, Fred mit einem Budweiser, und hörten uns Spiele der Detroit Tigers auf dem Kofferradio an“.
Während ein Großteil der Gegenwartsliteratur von aufreibenden Beziehungen und Selbstermächtigungskämpfen handelt, schreibt hier eine 78-Jährige, die als „Godmother of Punk“ verehrt wird, mit leuchtenden Augen über Wäscheständer, „den Wechsel der Jahreszeiten, den stillen Winterschnee“, gemeinsame Lektüren. „Unser Leben war unbedeutend und schien manchen vielleicht ziemlich uninteressant, doch für uns war es ein ausgefülltes Leben.“
Fred stirbt 1994 an Herzversagen, und für Smith beginnt eine lange Zeit der Abschiede. Die Liste der Toten, die im Buch auftauchen, ist so lang, dass man den Überblick verlieren kann. Doch ausgerechnet in diesem Abschnitt wirkt sie am klarsten: eine Frau, die gelernt hat, trotzdem weiterzumachen. Die Rückkehr auf die Bühne ist nicht das große Comeback eines Stars, sondern das, was man macht, wenn das Geld knapp wird, die Kinder größer werden und die Songs noch da sind.
Die späten Jahre, Tourneen, Lesungen, Instagram-Ruhm, streift sie fast beiläufig, manche Passagen lesen sich wie Stichwortzettel für zukünftige Biografen, andere wie Prosa-Gedichte. Ihr Stil: eine Mischung aus biblischer Beschwörung, Improvisationen und gelegentlichem Pathos. Und immer wieder Formulierungen, die ins Herz treffen. Am Ende, schreibt sie, werde sie die Ringe und die Liebe ihrer Kinder behalten. Der Rest kann gehen.
Patti Smith hat nie ironischen Abstand zu dem aufgebaut, was ihr wichtig ist. Sie nimmt Kunst, Liebe, Ehe, Trauer ernst. Das ist oft anstrengend, aber sehr beeindruckend. Und es ist tröstlich, dass jemand, der in den Siebzigern als androgyne Ikone des Punk über die Welt kam, im Alter ein Buch schreibt, das die Liebe besingt.
Patti Smith: Bread of Angels. Die Geschichte meines Lebens. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. 320 Seiten, 26 Euro.
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