Ja, ist denn heut’ schon Weihnachten? Man reibt sich zumindest verwundert die Augen, dass die Berliner Volksbühne am zweiten Adventssonntag ein Krippenspiel auf die Bühne bringt. Ein Krippenspiel mit Jesus, Maria und Josef? An der Volksbühne, wo Florentina Holzinger sonst die nackten Nonnen tanzen lässt? Kaum zu glauben, aber wahr. Und mehr noch: Die Volksbühne will sogar die seit dem Heiligen Franz von Assisi überlieferte Tradition des Krippenspiels vor der Kirche retten. Man staunt nicht schlecht.

Seit über 800 Jahren gibt es das Krippenspiel. 1223, so die Überlieferung, wurde im italienischen Umbrien die Weihnachtsgeschichte nach einer Idee von Franz von Assisi erstmals aufgeführt. Im gleichen Jahr wurde der von ihm gegründete Franziskanerorden offiziell anerkannt. Und weil die Franziskaner dem Privateigentum abschworen und ein besitzloses Leben in der Nachfolge Christi führten, so die These des Stücks „Proprietà Privata – Die Influencer Gottes kommen“, folgt auch das Krippenspiel diesen Idealen.

Nur was ist aus den Idealen geworden? Das Ensemble macht sich auf die Suche nach den revolutionären Ursprüngen des Krippenspiels. Allen voran Sophie Rois, die unter anderem als Heilige „Franzi von Assisi“ auftritt: in Mönchskutte, aber bitte ohne Tonsur. „Beim Krippenspiel muss es ums Eingemachte gehen!“, ruft sie aus. Sie zieht bis zum übellaunigen Papst (Kerstin Graßmann). „Darf ein Christenmensch Eigentum haben?“, wird der Papst nun gefragt. „Kommunistenschweine!“, schreit er erbost als Antwort.

Franz von Assisi wettert gegen den Kapitalismus

Das Krippenspiel mag zwar von einem Bettelorden erfunden worden sein, aber bettelarm darf es nicht aussehen. Im Gegenteil: Die prächtige Bühne im Renaissancestil und die verspielten Kostüme von Daniela Zorrozua geizen nicht an göttlichem Glanz, sodass es eine wahre Freude ist, dem Ensemble – neben Rois, Graßmann und Breitkreiz noch Inga Busch, Elias Schockel und Aminata Toscano – zuzuschauen. Das politische Programm wird hier auch zum ästhetischen Programm: In der künstlerischen Verschwendung streckt bereits der „Luxus für alle“ seine feinen Fühler aus.

Wie einst Klaus Kinski die sozialrevolutionären Botschaften des Christentums in seinem Skandal-Solo „Jesus Christus Erlöser“ auf die Theaterbühne brachte, ist auch Autor und Regisseur Christian Filips an einer rettenden Kritik der christlichen Tradition gelegen, insbesondere der franziskanischen. Seitenhiebe werden einige verteilt: Gegen die Kirche, die gestern wie heute die staatstreue Botschaft der „Kriegstauglichkeit“ verkündet, aber auch gegen blutige Extrem-Performances im christlichen Kostüm.

Der große Erzählbogen ist, dass Bettelorden wie die Franziskaner als Protest gegen den feudalistischen Frühkapitalismus entstanden sind. Franz von Assisi selbst war der Sohn eines Superreichen, der zu den Armen ging. Doch wo bleibt die „neue franziskanische Revolution“ in Zeiten des technofeudalistischen Spätkapitalismus, wie sie Margarita Breitkreiz als mit Weltklugheit ausgestatteter Rabe vehement einfordert? Ein neuer Orden der Datenarmut gegen das Silicon Valley? Ohne Krypto, ohne Algorithmen?

Das Krippenspiel als Geburtsort der politischen Utopie

Was ist das Eingemachte, um das es beim Krippenspiel geht? An diesem Abend ist es ganz klar die Frage: „Wem gehört die Welt?“ Um die geht es auch in dem eingespielten Film „Kuhle Wampe“, an dem Bertolt Brecht und Hanns Eisler beteiligt waren, zwei Urväter der Volksbühnentradition. Brecht, der die Bibel liebte, und Eisler, der Bach liebte: „Hyperchristen“, wie sie der Literaturwissenschaftler Clemens Pornschlegel nannte, bei denen urchristliche und urkommunistische Gemeinschaft zusammenfallen.

Dass die diskursive Erkundung der kryptokommunistischen Unterströmungen des Krippenspiels kein bisschen angestaubt daherkommt, liegt an der wundervollen Inszenierung. Filips, der mit dem Oratorium „777 – Die sieben Todsünden“ bereits Adalbert von Goldschmidt (den vergessenen „jüdischen Wagner“) an der Volksbühne als begeisterndes Spektakel auf die Bühne gebracht hat, lässt neben einer kleinen Kapelle den Fanny-Hensel-Chor der Singakademie und die Herren des Staats- und Domchors auftreten: mit geistlichen Gesängen, Weihnachtsliedern und einem zersplitterten Brecht-Eisler-Medley. Es ist eine musikalische Reise durch die Zeiten und Melodien.

Am Ende stellt sich eine erkenntnisfördernde Verwirrung beim Publikum ein: Ist die 1914 aus der Arbeiterbewegung hervorgegangene Volksbühne christlicher als der Papst und die CDU erlauben? Ist sie zudem die legitime Erbverwalterin des franziskanischen Krippenspiels? Und: „Wem gehört die Bude eigentlich?“ Eines jedenfalls ist sicher: Alles beginnt mit Maria und Josef an der Krippe. Eine Urszene: die Geburt der politischen Utopie aus dem Geist des Krippenspiels, und des modernen Dramas gleich noch dazu.

„Proprietà Privata. Die Influencer Gottes kommen“ ist nicht nur das schönste und wohl opulenteste Krippenspiel des Jahres, sondern folgt als Metakrippenspiel auch einem heiligen Ernst. Es ist die Suche nach der ungeteilten Welt in einer Gesellschaft auf dem Privatisierungstrip. Und ein richtiges Krippenspiel-Highlight hat der Abend auch noch zu bieten: einen echten Esel. Der steht, umringt von dem im Stroh knienden Ensemble, einfach da und wackelt mit den Ohren. Der Chor singt Hosianna und Halleluja. Nun kann Weihnachten kommen.

„Proprietà Privata. Die Influencer Gottes kommen“ läuft an der Berliner Volksbühne.

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