Vor fast auf den Tag 15 Jahren fragte die „New York Times“ den damaligen Geschäftsführer von Time Warner, ob Netflix eine Bedrohung für die etablierten Studios darstelle. „Es ist ein bisschen so“, antwortete Jeffrey Bewkes damals, „als würde man fragen: Wird die albanische Armee die Welt erobern?“
Nun, anderthalb Jahrzehnte danach, ist die „albanische Armee“ dabei, die Filmwelt zu erobern: Netflix möchte das Traditionsstudio Warner kaufen, dessen Vorstand ist bereit, sich kaufen zu lassen, und nur noch die amerikanischen Kartellbehörden (oder vielleicht Donald Trump) könnten das Geschäft verhindern. Der 5. Dezember 2025 könnte das Komplementärdatum zum 28. Dezember 1895 werden. An dem einen Tag wurde in Paris erstmals ein Film für ein zahlendes Publikum vorgeführt und damit das Kino geboren. An dem anderen Tag könnte das Kino, wie wir es kennen, zu Ende gegangen sein.
Das ist die pessimistische Interpretation der angekündigten Entwicklung. Warner Bros. steht wie kein anderes Studio für ein Jahrhundert Kino. Gegründet vor 102 Jahren von den vier Warner-Brüdern, hat es unzählige Klassiker produziert („Casablanca“, „Shining“, „Blade Runner“, „Dirty Harry“), aber seine Bedeutung auch nach der Jahrhundertwende behalten, mit „Harry Potter“, „Herr der Ringe“, „Batman“ oder „Barbie“. Warner ist in diesem Jahr das erfolgreichste der fünf großen Studios mit einem Marktanteil von 26 Prozent an den Kinoeinnahmen in Amerika, gefolgt von Disney (23), Universal (15) sowie Sony und Paramount (jeweils sieben). Die Rangfolge der Großen Fünf kann wechseln, je nachdem, wem Hits gelingen, doch rechnet man ihren Gesamtanteil zusammen, sorgen die Fünf mit ihren Blockbustern regelmäßig für zwei Drittel bis drei Viertel der Kinozuschauer in Nordamerika.
Das Kino, wie wir es seit dem „Krieg der Sterne“ kennen, ist auf ständige Blutauffrischungen durch Blockbuster angewiesen. Ähnliches gilt für die Streamer. Eine Untersuchung fand heraus, dass im vorigen Jahr neue Serien und Filme nur fünf Prozent des Angebots von Netflix ausmachten, jedoch 20 Prozent der Sehdauer. Es gibt einen ungeheuren Hunger nach neuem „Content“, den Netflix in jüngerer Zeit nicht mehr stillen konnte, viele Abonnenten beklagen sich darüber, dass sie „alles schon gesehen“ hätten.
Projekt „Weltherrschaft“
Mit der Übernahme von Warner bekäme Netflix eine nahezu unerschöpfliche Film- und Serienbibliothek. Dazu zählen, unter vielen anderen, „Die Sopranos“, „Game of Thrones“ und die „Big Bang Theory“, und dazu würde auch die „Harry Potter“-Serie gehören, die übernächstes Jahr herauskommen soll. Eine Warner-Übernahme könnte Netflix auch neuen kreativen Atem einhauchen; die Zehnerjahre waren bei dem Streamer voll von inhaltlichen und künstlerischen Innovationen, in den Zwanzigern ist dieser Kredit durch viel platte Routine aufgebraucht worden.
Nun zahlt man für ein paar frische Ideen natürlich keine 83 Milliarden Dollar, wie Netflix das für Warner tun möchte, erst recht nicht, wenn man keinen eigenen Dollar auf der Bank hat – im Gegenteil, Netflix hat 14,5 Milliarden Schulden – und die Kaufsumme zu zwei Dritteln mit neuen Krediten und zu einem Drittel mit Eigenaktien bezahlen will. Nein, Jeffrey Bewkes hatte damals schon recht, in einem einzigen Punkt, auch wenn er in allen anderen lächerlich falsch lag: Es geht Netflix-Chef Ted Sarandon um nichts Geringeres als die Weltherrschaft.
Sarandon hatte eine dieser Disruptions-Ideen: Filme nicht mehr auf DVDs oder Kassetten auszuliefern und auch nicht mehr dafür ins Kino zu gehen – sondern sie online an die Kundschaft zu bringen. Er wusste, dass er eine mächtige Industrie gegen sich haben würde, und die hat er auch nach anderthalb Jahrzehnten noch gegen sich; die Oscar-Wähler haben bisher keiner Netflix-Produktion den „Besten Film“ gegönnt, obwohl „Roma“ und „Power oft the Dog“ ihn durchaus verdient hätten.
Feindliche Attacke
Dies ist keine von diesen Übernahmen, bei denen ein Unternehmen, welches zwar das Geld dafür nicht hat, aber eine Vision von der Zukunft, einen taumelnden Giganten übernimmt, der wohl ein großes Renommee besitzt, aber keine Vorstellung von der Zukunft. Warner ist das klassische Studio, das seine überragende Stellung durch alle Jahrzehnte bis ins Heute bewahrt hat. Es ist kein zahnloser Löwe wie MGM, dessen Bedeutung fast nur noch in seiner Bibliothek alter Filme liegt, kein Mehrfachverkaufter wie die Columbia, die erst von Coca-Cola erworben wurde und dann von Sony.
Warner ist kein Überbleibsel aus glorreicher Vergangenheit. Seit Sarandos Netflix gründete, hat Warner acht Filme ins Kino gebracht, die mehr als eine Milliarde Dollar einnahmen, darunter „Barbie“, „The Dark Knight Rises“ und der letzte „Harry Potter“; unter den zehn besucherstärksten Filmen dieses Jahres sind drei von Warner, „Ein Minecraft Movie“, „F1“ und „Superman“. Das Warner-Gelände im Norden von Los Angeles ist die Heimat von 35 (!) Filmbühnen und vor allem die Heimat von Leuten, die den Traum vom überlebensgroßen Film auf der überlebensgroßen Leinwand am Leben erhalten (haben).
Ted Sarandos hat angekündigt, Warner-Filme weiterhin ins Kino bringen zu wollen. Dem ist, gemessen an seinem bisherigen Verhalten, nicht zu trauen. Sarandos inszeniert sich gern als Filmliebhaber, hat zwei alte Kinopaläste – das „Egyptian“ in Los Angeles und das „Paris“ in New York – restauriert und nützt sie als Werbefläche für seine Firma. Manchmal lässt er einen seiner Filme sogar in ein paar Kinos, aber nur, wenn er nicht anders kann, weil die Oscar-Regeln es verlangen, oder weil jemand es ihm abtrotzt, wie die „Barbie“-Regisseurin Greta Gerwig mit ihrem neuen Film „Narnia“.
Und deshalb ist der Netflix-Kauf keine Übernahme wie viele andere. Es ist eine zutiefst feindliche Attacke, die ins Herz von allem zielt, was wir seit 130 Jahren als Kino kennen, und daher rührt auch der entsetzte, lautstarke Protest der Hollywood-Gemeinde. Einen Film als Serie anzulegen ist eine Sache, ihn fürs Kino zu konzipieren eine völlig andere. Wenn in der Chefetage Manager sitzen, für die eine Kinoauswertung nur das Abfallprodukt ihres Streaming-Projektes ist, wird der Film im Kino auch keinen Erfolg haben.
Es ist noch nicht ausgemacht, ob Sarandos seinen Coup wirklich durchziehen kann, das hängt von jeder Menge politischer Erwägungen ab, und die Trump-Administration wird dabei mitmischen – der Präsident macht aus seiner Skepsis keinen Hehl. Eigentlich war Paramount als Käufer für Warner favorisiert worden, jenes Paramount, das mit Serien wie „Yellowstone“ oder „Landman“ in die Kerbe von Trump-Wählern haut und dessen Mehrheitseigner Larry Ellison, ein Tech-Milliardär, mit Donald Trump auch schon mal die Entlassung von Fernsehmoderatoren bespricht. Die Gemengelage ist verzweigt, Sarandos hat sich bisher nicht mit Elogen an Trump hervorgetan wie die anderen Tech-Mogule – und Larrys Tochter Megan Ellison ist die Chefin von Annapurna Pictures, die feministische Filme produziert, die es nicht gäbe, hätte ihr Vater das Sagen.
Im Übrigen soll man nicht glauben, das Übernahmegerangel der US-Riesen sei eine inneramerikanische Angelegenheit. Natürlich sind die Kinos weltweit auf Blockbuster Made in Hollywood angewiesen (obwohl, nebenbei bemerkt, der erfolgreichste Kinofilm des Jahres, „Ne Zha 2“, 2025 ein chinesischer ist), jedoch unterscheidet sich die Situation in Europa oder Asien von der amerikanischen. Im ersten Halbjahr 2025 machten „Blockbuster“ (die wir wohlwollend als Filme mit mehr als einer Million Besuchern definieren) in Deutschland weniger als 40 Prozent der Besucher aus, davon wiederum entfielen ein Fünftel auf deutsche Produktionen. Das könnte sich zum Jahresende durch „Avatar“ noch ändern, aber nicht entscheidend, denn der größte Blockbuster des Jahres dürfte das deutsche „Kanu des Manitu“ bleiben, mit bald sechs Millionen Besuchern.
Womit wir unversehens bei den „deutschen Kinoblockbustern“ gelandet wären, die Kulturstaatsminister Weimer sich wünscht, und zu deren Finanzierung Milliarden-Abgaben von den amerikanischen Streamern beitragen sollen. Milliarden ausgerechnet von Ted Sarandos für die deutsche Kinoindustrie? Wenn sich Weimer da nur nicht täuscht.
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