Als die Beatles ab 1995 mit ihrer „Anthology“-Serie erstmals ihre Archive öffneten, starteten sie ein neues Kapitel: Gitarrenrock war spätestens jetzt rein retrospektiv und wurde zu einem Forschungsobjekt. Die Offenlegung des kreativen Prozesses machte das Genre transparent und sezierbar, gleichzeitig begann eine umfangreiche Kanonisierung von allem Bestehenden.
Diese Entwicklung dauert bis heute an, nicht zuletzt, weil sie dem Musikbusiness in die Karten spielt. In Zeiten, in denen der Erwerb eines Albums gar nicht mehr nötig ist, um es anzuhören, sind opulent ausstaffierte Wiederveröffentlichungen eine der letzten Möglichkeiten, mit physischen Produkten Geld zu verdienen. Ein steter Strom an Klassikern ergießt sich deswegen seit der Jahrtausendwende über die Hörer. Viele der großen Alben der 1960er-, 70er- und 80er-Jahre wurden mittlerweile in verschiedensten Formaten und Konfigurationen neu aufgelegt.
Das ist reizvoll und führt zu beglückenden Neu- und Wiederentdeckungen, und doch machten sich zuletzt gewisse Abnutzungserscheinungen bemerkbar. Für die Unterhaltungsindustrie ist das nicht ungefährlich. Und so wurde 2025 eine recht neue Entwicklung vertieft: Die Wiederveröffentlichung ist immer öfter Teil eines audiovisuellen Gesamterlebnisses. Angetrieben wird dieser Trend abermals von den Beatles und deren „Anthology“.
Es ist Retromania in Reinform: ein Reissue einer Reissue-Reihe, die von der Doku-Serie von 1995 ergänzt wird, die im Streaming bei Disney+ läuft. Neben den acht ursprünglichen Episoden wurde die Reihe um eine neu produzierte Folge ergänzt, die auf neu erschlossenem Filmmaterial aus den Jahren 1994/95 basiert und Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr bei Proben, Gesprächen und der Arbeit an den postumen Tracks „Free As A Bird“ und „Now and Then“ zeigt.
Auch musikalisch setzt die Edition stärker auf eine Abbildung des Prozesses als auf Neumaterial: Outtakes, frühe Takes, Proberaumaufnahmen und alternative Mischungen dominieren das Bonusmaterial der neuen „Anthology 4“, Entdeckungen bleiben die Ausnahme. Dementsprechend fiel die Resonanz nicht nur ehrfürchtig aus. „Ein Großteil des Materials ist bereits bekannt“, schrieb etwa der britische „Guardian“, Fans bemängelten die erneute Absenz sagenumwobener Tracks wie „Carnival Of Light“ oder der 27-minütigen „Helter Skelter“-Variante. Dennoch gilt: It’s the Beatles! Es ist ein großes Vergnügen, die drei damals noch lebenden Ikonen in der Serie bei der Arbeit zu begleiten. Und es ist ein ebenso großer Spaß, auf dem Album in den Entstehungsprozess von Songs wie „Tell Me Why“ einzutauchen.
Auch bei Bruce Springsteen menschelte es. Der Boss beschenkte seine Fans gleich doppelt. Während „Tracks II: The Lost Albums“ im Sommer mit insgesamt sieben Alben zunächst vor allem ein Geschenk an die Nerds war und mit seiner schieren Masse an Material beeindruckte, gestattete „Nebraska 82“ einen Werkstattblick. Dieser war Teil eines größeren Panoramas. Das sechste Studioalbum Springsteens erschien im September 1982. Es zeigte einen Künstler, der mit dem Ruhm fremdelte, den ihm der Vorgänger „The River“ eingebracht hatte. Er zog sich zurück, kämpfte gegen Depressionen und Suizidgedanken an.
Parallel zur Wiederveröffentlichung von „Nebraska“ lief in den Kinos „Springsteen: Deliver Me from Nowhere“ an, der aus jener Periode berichtete. Doch während die Kritiken zu Scott Coopers Kinofilm lauwarm ausfielen, fand die Musik viel Lob. So großartig das eigentliche, 1982 erschienene Album sein mag, so berührend es den Boss als großen Geschichtenerzähler zeigt und damit als unverzichtbarer Baustein in dessen Emanzipation zum Rock-Universalgelehrten zu sehen ist: Die Entstehungsgeschichte des Werkes wurde nie nachgezeichnet.
„Nebraska 82“ leuchtet sie bis in den letzten Winkel aus. Es enthält neben zahlreichen Outtakes, Liveaufnahmen und B-Seiten die legendären „Electric Nebraska“-Tracks, die eine Idee davon geben, wie die Songs damals eben auch hätten klingen können. Umgekehrt ist es bei „Born In The U.S.A.“. Das Demo des so oft missverstandenen Klassikers wird hier lediglich von einer Akustikgitarre begleitet, als nervöser Klagegesang.
Pink Floyd reihten sich 2025 ebenfalls in die Logik der audiovisuellen Verwertungskette ein. Mit „Pink Floyd at Pompeii MCMLXXII“ kehrte der Konzertfilm aus dem Jahr 1972 in restaurierter 4K-Fassung in die Kinos zurück und erschien parallel in einem neuen Mix von Steven Wilson erstmals als eigenständiges Live-Album auf CD und Vinyl. Das Konzert selbst wurde im Oktober 1971 ohne Publikum im antiken Amphitheater von Pompeji aufgezeichnet und war als bewusster Gegenentwurf zu den großen Live-Ereignissen jener Zeit gedacht. Gespielt wurde vor leeren Steinrängen, um Musik, Raum und Bild in ein unmittelbares Wechselverhältnis zu setzen.
Die neue Version mag nicht zu großem Erkenntnisgewinn führen, wohl aber ist sie die sorgfältige Restaurierung eines kanonischen Dokuments. Für die Band bedeutete sie gleichzeitig die siebte Nummer eins in den britischen Albumcharts. Es ist gut möglich, dass die achte bald folgen wird: Am 12. Dezember erscheint mit „Wish You Were Here (50th Anniversary)“ eine umfangreiche Jubiläumsausgabe des Albums von 1975.
Es gab 2025 ein Wiederhören mit vielen anderen Schwergewichten: Metallica überführten „Load“ in ein audiovisuelles Archiv, wobei Fans nicht ins Kino gehen oder ein Streamingabo abschließen mussten: Vier DVDs versammeln Dokumentationen, Fernsehauftritte, Musikvideos und komplette Live-Shows dieser Jahre. Das 1996 erschienene Album liegt zudem neu gemastert vor und erscheint als Set, das je nach Konfiguration mit bis zu sechs LPs und 15 CDs voll Bonusmaterial und Konzertmitschnitten ergänzt wird.
Die Rolling Stones widmeten sich ausführlich ihrem 1976 erschienenen „Black And Blue“. Wer hier Filmmaterial möchte, muss auf die Blu-Ray-Version zurückgreifen. Beide Reissues sind vor allem eines: teuer. „Load“ kostet als Boxsets 270 Euro. Ein Wiederhören mit Mick Jagger, Keith Richards und den anderen schlägt in der teuersten Version mit immerhin 180 Euro zu Buche.
Es lohnt allerdings auch ein Blick auf jene Veröffentlichungen, die es simpler hielten. Mit dem jetzt wiederveröffentlichten „Around the World in a Day“ tat Prince erstmals das, was später zu seinem Markenzeichen werden sollte: Der Künstler, dank des Erfolgs von „Purple Rain“ 1985 endgültig zum Superstar geworden, nahm keine Rücksicht mehr auf die Entscheidungsträger der Musikindustrie und verzichtete auf die Veröffentlichung von Vorabsingles. Die Plattenfirma war mäßig begeistert. Retrospektiv bereitet das Album, das jetzt, vergleichsweise bescheiden, zwei CDs oder drei LPs umfasst, mit seinem Aufeinanderprallen verschiedenster Genres aber wieder große Freude. Der Bonusteil hält allerlei Besonderes bereit, etwa die 22-minütige Version von „America“.
Keinerlei Beiwerk schmückt die schönste Wiederveröffentlichung des Jahres: Mit „Buckingham Nicks“ stellten sich Stevie Nicks und Lindsey Buckingham 1973 als Duo vor, zwei Jahre bevor sie Fleetwood Mac beitreten und den Sound der Band grundlegend verändern sollten. Lange Zeit war das Album lediglich als Vinyl aus den 1970ern erhältlich. Eine Wiederveröffentlichung wurde von Buckingham immer wieder angekündigt, sogar von unveröffentlichtem Material war die Rede. Das klang glaubwürdig, zumal auf Bootlegs zahlreiche Demos versammelt waren. Sie fehlen hier völlig.
Eine Geschichte erzählt die Wiederveröffentlichung dennoch. Diese Musik bestellte das Feld, auf dem Jahre später Großwerke wie „Rumours“ wuchsen. Alles ist da: die wunderbaren Gesangsharmonien. Die Gitarrenarbeit, die um Folk weiß, aber bereits ins Stadion blickt. Songs wie „Don’t Let Me Down Again“ oder „Frozen Love“, die mit zu den besten der 1970er-Jahre gehören. Die im ersten Teil dieses Textes erwähnten Gesamterlebnisse, die 15-CD-Alben, die Live-Mitschnitte aus römischen Stadien, die Filmdokus: Am Ende geht es immer um ein kleines, großes Album.
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