Seit seinem 24. Lebensjahr leidet der Schriftsteller Thomas Melle, Jahrgang 1975, an einer besonders schweren Form der bipolaren Störung. 2016 erschien sein aufsehenerregender autofiktionaler Roman „Die Welt im Rücken“, in dem er über seine manisch-depressive Erkrankung schrieb.
Melles neuer Roman „Haus zur Sonne“ (Kiepenheuer & Witsch, 320 S., 24 Euro) ist, leider, die Fortsetzung von „Die Welt im Rücken“, denn auch Melles Leidensgeschichte ist, wie er im Gespräch erläutert, weitergegangen. Wir treffen ihn in einem ehemaligen Krematorium in Berlin, um bei einer Cola Zero und ziemlich vielen Zigaretten unter anderem über Sterbehilfe zu sprechen.
WELT: Thomas Melle, Sie dachten, mit Ihrem Roman „Die Welt im Rücken“ die Krankheit als Monstrum domestiziert zu haben. Aber sie schlug mit einer über zwei Jahre dauernden Manie wieder zu. Wie ist das zu erklären?
Thomas Melle: Es ist eigentlich unverständlich und dann doch nur der normale Verlauf der Krankheit. Wenn man schon bei mir nach eventuellen Fehlern suchen möchte: Ich hätte dem Trugschluss nicht aufsitzen sollen, dass ich ein ganz normales Leben führen kann. Nach „Die Welt im Rücken“ gab es sehr gute Jahre, und ich kam mir fast wie ein normaler Mensch vor. Ich dachte, ich habe die Krankheit auf eine gewisse Weise gebannt, nahm aber dennoch meine Medikamente weiter. Das war nicht der Grund, sondern eine öffentliche Stresssituation, dass, kurz bevor die letzte Manie zehn Jahre her war, eine neue, noch viel zerstörerische kam.
WELT: Sie haben einen kontroversen Text über die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke geschrieben und sind dann auf Twitter in einen Mini-Shitstorm geraten.
Melle: Ja, es ist nicht ersichtlich, warum jemand durch so etwas völlig aus der Bahn geworfen werden kann. Ich habe vergessen, dass ich mich nicht unbedingt polemisch äußern sollte. Ich dachte aber trotzig: Auch ich darf mich edgy einbringen und mich als derart markierter und fragiler Mensch äußern. Aber das war zu viel. Die Krankheit hat auf eine Art zurückgeschlagen, wie ich es noch nicht kannte. Die zwei vorherigen Manien 2006 und 2010 dauerten schon ein und eineinhalb Jahre, was auch die Ärzte sich schlecht erklären können. Dass die jüngste Manie aber zweieinviertel Jahre gedauert hat, war nochmals extremer.
WELT: Wie haben Sie gemerkt, dass es wieder losgeht?
Melle: Man merkt das selbst nicht. Man ist auch nie richtig einsichtig, wenn man erkrankt ist. Ich bin dann immer ganz wirr und aufgelöst auf eine gewisse Weise. Ich war mit meiner damaligen Freundin in Venedig und weiß nicht mehr, wie ich überhaupt von Venedig nach Berlin zurückgeflogen bin. Bei mir kommen auch immer noch schizoaffektive Anteile dazu. Es ist immer auch eine Psychose oder verschiedene Psychosenbündel.
WELT: In „Die Welt im Rücken“ haben Sie von Sex mit Madonna erzählt. Ist dieser Wahnzustand auch physisch oder eher wie ein Film?
Melle: Es ist wie ein Film. Das Komische an der Krankheit ist, dass ein schräger, irrer Gedanke sofort Wirklichkeit werden kann. Es bedeutet einem in diesem Moment aber nicht viel. Dann war’s halt Madonna, mein Gott. Und dann geht’s sofort weiter. Was ist da hinten los? Ist das Arafat an der Straßenecke, der was besprechen will?
WELT: Sie dachten auch, Messias zu sein.
Melle: Ja, oder Teil einer Weltverschwörung. Es ist immer dieses Metaphorisch-Codierte, die Leute im Fernsehen reden etwas, und ich denke: Ach, jetzt meinen sie das und das! All das lappt über in eine phasenhafte Schizophrenie. Und dann klinke ich bei einer nächsten Manie wieder in diese Weltbilder ein. Und denke: Ha, ich hatte damals ja recht!
WELT: Eine neue Manie knüpft Jahre später an die letzte an?
Melle: Ja, aber es ist nicht mehr so schockierend, wie es bei der ersten war. Trotzdem ist man wahnsinnig agitiert, drüber und hektisch. Es gibt einen Überschuss an Botenstoffen im Gehirn, das zerschossen wird. Das merkt man daran, dass ich die ganze Zeit irgendwas machen oder kritzeln muss. Die Depression ist dann die logische neurologische Antwort auf diese Übererregtheit. Geheilt ist man nie.
WELT: Man kann ja in nur einem Tag viel kaputtmachen. Aber wie überlebt man in einer so lange andauernden Veräußerung?
Melle: Das weiß ich auch nicht. Überleben ist eigentlich in der Depression die Frage.
WELT: Und körperlich?
Melle: Ich möchte nicht ins Detail gehen, aber ich habe tatsächlich körperliche Schäden davongetragen. Was man alles anrichtet, ist einfach unverständlich. Die Verluste während einer Manie sind unüberschaubar. Ich weiß nicht, wie es dann immer weitergeht. Atmen?
WELT: Sie müssten auf Zehenspitzen durchs Leben gehen, oder?
Melle: Ja, die Ärzte sagen, dass man sich ein möglichst langweiliges Leben einrichten und sich auf das Nötigste beschränken sollte. Genug schlafen, nicht viele Reize, kein Remmidemmi. Das muss man auch erst einmal annehmen und darf es dann nicht wieder vergessen.
WELT: Verlieren Sie immer wieder auch Ihre sozialen Kontakte?
Melle: Ja, ich bin zwar schon eh ein Einzelgänger, aber die Krankheit macht ein hinreichend einsames Leben. Auch ein Thema, über das öffentlich zu wenig gesprochen wird.
WELT: Es wirkt wie ein zufälliges Glück, dass Sie noch leben. Dachten Sie nie, ich kann fliegen?
Melle: Es sind schon schlimme Sachen passiert, aber ich neige nicht zum Übernatürlichen. Ich glaube dann weder an Außerirdische, noch kann ich fliegen. Aber manchmal denke ich halt doch: Hätte ich besser mal gemeint, ich könnte fliegen. Wenn Sie wissen, was ich meine …
WELT: In „Haus zur Sonne“ spielen Sie mit Science-Fiction-Elementen durch, was mit den Menschen passiert, die das Sozialsystem belasten.
Melle: Wenn man das Sozialsystem radikal zu Ende denkt, dann landet man wahrscheinlich dort im Haus zur Sonne. Der Staat wird seinen menschlichen Ballast los und ermöglicht ein würdiges, aber auch aufregendes Ende. Ist das gut, ist das schlecht? Der Roman changiert dazu, man kann es so dystopisch wie utopisch sehen. Ist das wirklich ein würdiges Ende oder doch nur eine weitere Abschaffungsmaschine? Aber eigentlich darf man gar nicht wagen, es so ganz zu Ende zu denken.
WELT: Was darf man nicht denken?
Melle: Dass ich in „Hause zur Sonne“ das Thema der Euthanasie fast im Plauderton behandle. Der Begriff ist in Deutschland verständlicherweise sehr belastet, andererseits sind Sterbehilfe und Suizid Themen, bei denen ich mich frage, wie wir besser drüber sprechen könnten. Ich habe mich diesbezüglich auch schon in die Schweiz geträumt. Natürlich sollte es nicht allzu einfach sein, aber die Hürden, die einem in den Weg gelegt werden, dieses Verbot, sich selbst abschaffen zu wollen, das ist doch aus einer anderen Zeit. Wir sollten nicht nur eine Lebensgestaltung haben dürfen, sondern auch eine Todesgestaltung.
WELT: Warum sind wir hier noch nicht weiter?
Melle: Dieses Thema muss man ernster nehmen und den Menschen darin auch – und die Mittel wie Pentobarbital nicht so absolut wegsperren. Es ist das Leben des einzelnen Menschen, nicht das des Staates. Das sind alles völlig überkommene Denkweisen, auch der Einfluss religiösen Denkens ist da noch spürbar. Beim Thema Suizid ist aber leider ganz schnell Schluss, genauso wie bei Psychosen. Da verstummt das Gespräch. Mental Health ist ein Trend, aber man darf gewisse Grenzen nicht überschreiten. Wenn das Ich allzu stark verzerrt ist, kriegen die Leute Angst. Dann ist auch kein Austausch mehr möglich.
WELT: Der Ich-Erzähler im Roman findet den Flyer fürs Haus zur Sonne, als er im Jobcenter sitzt. Mit Ihrer Krankheit sind Sie für den Arbeitsmarkt mäßig attraktiv, oder?
Melle: Das stimmt, jedenfalls mit Bipolar I in der starken Version, wie ich es habe. Ich habe mich immer sehr für Jura interessiert. Aber als Rechtsanwalt wäre mir die Lizenz vermutlich schon entzogen worden, und mein Kundenstamm hätte sich dezimiert. Man ist für den Arbeitsmarkt eigentlich verschwunden, wenn man seine Krankheit nicht geheim hält.
WELT: Der Protagonist will nur noch sterben. Die Krankheit ist eine große Demütigung. Wofür sich also immer wieder aufrappeln?
Melle: Ja, das große Thema dieses Romans ist der Lebenstrotz. Man hadert sehr mit den Dingen, die man als Erkrankter gemacht hat, und hat dazu noch diese Depression. Aber dieser Lebenstrotz ist erst einmal eine Art Urtrieb, den man in sich hat. Eine Kraft, trotzdem bleiben zu wollen. Und dann schleppt man sich in einer Depression einfach vom einen Tag zum nächsten.
WELT: Man zeigt sich mit seinen Texten und macht sich angreifbar. Kombiniert mit der Krankheit, in der Sie sich vermutlich immer wieder selbst nicht über den Weg trauen: Wie geht das mit der Kunst zusammen?
Melle: Ich komme mir durch die Krankheit stigmatisiert vor, aber wenn sie Gegenstand meiner Bücher wird, stigmatisiere ich mich nochmals, nehme die Rolle des Erkrankten auch in der Öffentlichkeit an, in der Hoffnung, mich dadurch zu entstigmatisieren. Dieser dialektische Vorgang ist eigentlich total seltsam. Krankheit und mentale Gesundheit waren schon immer Stoff meiner Arbeiten. Aber ich wusste noch nicht, dass es ewig so weitergehen wird, weil es so zirkulär ist.
WELT: Und lebenslang.
Melle: Ich hatte ganz früher gedacht: Da bin ich 1999 bei der ersten Manie halt einmal ausgeflippt. Dass es zu meiner Aufgabe werden würde, mich immer und immer wieder mit dieser Krankheit auseinanderzusetzen, habe ich länger nicht verstanden oder verstehen wollen. Aber ich hatte es dann verstanden, und dennoch ist das Unverständliche passiert. Es ist einfach eine Lebensaufgabe, aber sie steht dem Leben völlig im Weg.
WELT: In welchen Phasen können Sie schreiben?
Melle: In den Zwischenzeiten und teils in der Depression. Oder sozusagen mit der Depression. Dann geht es eher, weil mein Bewusstsein nicht so verrückt ist. In der Manie geht kaum was. Das ist dann alles Quatsch, was mir einfällt. Aber vier meiner Bücher sind von der Manie affiziert, das merke ich leider daran, wie schnell sie zu Ende geschrieben sind, aber gar nicht mal so crazy. Ich hatte sie nur anders entworfen, als sie dann geworden sind.
WELT: Sie sagen im Roman, wer publiziert, hat überlebt. Das seien Rettungsgeschichten. Und Sie fragen: Was ist mit all denen, deren Geschichte keine Rettung erzählt, die nicht mehr leben oder nicht darüber schreiben können? Sie sind auch ein Überlebender, oder?
Melle: Ja, ich war einer der Verschwundenen und habe es als meine Aufgabe gesehen, für andere Vergessene zu erzählen. Während des Schreibens dieses Romans wusste ich nicht, ob ich das Buch zu Ende kriege oder überhaupt noch weiterleben werde. Ich war ein Verschwundener, und wahrscheinlich werde ich wieder einer sein. Wenn ich Interviews gebe, wirkt das jetzt vielleicht so, als wäre erst einmal wieder alles in Ordnung. Aber das stimmt nicht.
WELT: Sie haben schon zwei Suizidversuche unternommen und wurden nach der letzten Manie wieder von Suizidgedanken geplagt.
Melle: Ja, die ganze Zeit. Dieses Eigentlich-schon-gestorben-Sein bei diesen Gedanken.
WELT: Sie haben überlegt, wie Sie es konkret tun würden?
Melle: Da kommt das Buch her.
WELT: Wie erinnern Sie sich an alles, was passiert ist, damit Sie überhaupt so genau darüber schreiben können?
Melle: Vieles ist zwar verschollen, aber manches kann aktiviert werden, je genauer ich darüber nachdenke. Bei der 2010er-Manie, nach der ich „Die Welt im Rücken“ schrieb, habe ich noch vieles gewusst. Das ist unterdessen schwieriger geworden, vielleicht weil ich älter bin.
WELT: Erfolg ist, wenn auch positiv, ein ziemlicher Stress. Das ist doch gefährlich für Sie, nicht?
Melle: Ja, es droht ständig zu viel zu sein. Auch in der Phase der Nomination für den Deutschen Buchpreis sagte ich mir immer wieder: „Vorsicht, Vorsicht!“ Manchmal weiß ich nicht mehr, ob ich nur noch Patient bin oder doch auch noch Schriftsteller. Dann gibt es aber Sachen, die ich doch hinkriege. Wenn ich Kunst mache, habe ich nichts zu befürchten. Zu stark ins Internet schreiben darf ich nicht mehr, das ist zu gefährlich. Ich weiß, ich sollte langweilig leben. Und das tue ich ja auch. Aber hält man das aus?
Dieses Interview erschien zuerst im Schweizer „Tagesanzeiger“, wie WELT Mitglied der „Leading European Newspaper Alliance“ (LENA).
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