Der Volksmund stellt sich den Künstler gern abgerissen vor – genial, aber elend, berufen, aber verkannt. Dass einer mit kernigem Selbstbewusstsein ins kreative Leben tritt, ist im Skript nicht vorgesehen. So gesehen hat Max Beckmann alles falsch gemacht. Warf sich gleich kämpferisch in den Ring und musste sich vorhalten lassen: „Was rührt uns diese Sprache, wenn sie sich nur kraft ihrer bombastischen Übersteigerung zu Gehör bringen kann?“
Es ist nur folgerichtig, dass die große Max-Beckmann-Ausstellung im Frankfurter Städel Museum mit einem Selbstbildnis beginnt. Einer Zeichnung von 1912, auf der der 28-Jährige verzagt tut, und das quellende Maler-Ego unterbewirtschaftet scheint. Und doch ist kein Zweifel erlaubt, dass der junge Mann sein Rollenfach beherrscht und alles daransetzen wird, zum verlässlichsten Selbstdarsteller in der Kunst des 20. Jahrhunderts zu werden.
Man hat ja doch sein unverwackeltes Beckmann-Bild: stark im Ton, männlich robust. Zupackend, allemal leistungsbereit, eitel, holzfällerisch laut und an den Konkurrenzkämpfen der Moderne nicht wirklich interessiert. Als sich der Maler in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre anschickte, nach Paris überzusiedeln, schrieb er an seinen Kunsthändler Israel Ber Neumann: „Wir werden die Sache schmeißen. Die Stühle in Paris sind schwach besetzt. Sie haben in mir eine furchtbare Waffe in der Hand.“
Und nun steht man vor dem kleinen Selbstbildnis und will an die versteckten Waffen nicht so recht glauben. Zumal es in der Ausstellung, die sich ganz auf den Zeichner konzentriert, weitestgehend friedlich zugeht, zuweilen gar idyllisch anmutet. Beckmann hinter der Bühne gleichsam. Suchend, strichelnd, skizzierend, probierend, verwerfend, augenblicklich, vorläufig. Dann wieder endgültig. Hier am Ausschnitt interessiert, dort am Zusammenhang. Mal verschlüsselt, mal bekennend. Intim das eine Blatt, präsentabel das andere. Heute Geheimnisse bewahrend und sie morgen mit Lust verratend. Ein ganz eigenes Werk, diese Zeichnungen – ohne all die Reflexe, die seine spektakuläre Inszenierungskunst bestimmen sollten.
Vor der bildnerischen Moritat, vor dem großen Figurentheater, dem Weltdrama in expressiven Kulissen, wie es der Maler aufführte, trug der Zeichner erst einmal seine sinnlichen Erfahrungen zusammen. 1917 war der Erste Weltkrieg für Max Beckmann vorbei. Aber was kann „vorbei“ sein, wenn einer freiwilliger Sanitätssoldat in Belgien war, im Typhuslazarett und im Operationssaal Aushilfe geleistet hat und nach einem psychischen Zusammenbruch aus dem Dienst entlassen wurde? In krakeligen, sehnig angespannten Zeichnungen hat der Künstler seine Erinnerungen aufbewahrt. Getroffen von den elenden Weltdingen und zugleich fasziniert von der Radikalität der Erlebnisse, drängt sein Werk zu großem Pathos: „Meine Kunst kriegt hier zu fressen“, schreibt er von der Front. Aber der Zynismus intellektueller Neugier steht in wunderbar tröstlichem Widerspruch zur zeichnerischen Wahrheit, die er festgehalten hat.
Beckmann, der Maler tief verrätselter Allegorien, der Selbstporträtist, der seiner Autospektion nie überdrüssig wurde, der Maler, der seinen Figuren Metzgermesser und Königskronen in die fleischigen Hände drückte, der Sympathisant nirgendwo ankommender, stürzender, kämpfender, verrenkter, gefolterter Leidmenschen, diesen Tragiker beim interesselosen Wohlgefallen in der Rodeo-Arena zu beobachten, das ist doch von einiger Faszination. Man weiß genau, wann es war: am 31. Juli 1949 – im amerikanischen Exil. Beckmann sieht zu, wie der Stier den Cowboy abwirft, und hat sichtlich Spaß am Theater. Eine schnelle Zeichnung. Vielleicht kann man die kuriose Szene ja für ein bildnerisches Existenzstück gebrauchen.
Man hat schon früh – der eine mit Bedauern, der andere mit Beifall – beim Maler Beckmann auf Traditionalismus erkannt. Falsch ist es nicht, dass sich dieses Werk seltsam unangepasst ausnimmt, verspätet, zurückgeblieben hinter dem Radikalismus der epochalen Bilderfindungen, auf herrische Weise unbeeindruckbar vom Sog der Zeit, die alles neu erschuf. Es gibt bei Beckmann diesen Heideggerschen Affekt gegen den Wahn einer technischen Moderne, die mit dem Sturz der Götter gleich die Geschichte erledigen wollte.
Auch der Zeichner bedient die überkommenen Klischees, wappnet sich mit stolzem Konservativismus gegen die formalen Auflösungen, die der abstrakte Zeitstil empfiehlt. Immer, wenn eine Skizze bildnerische Dramen vorbereitet, füllt sie sich mit jenem Pathos, das den Zeitenbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert illustriert. Der „Mord“, von dem ein Blatt aus dem Jahr 1945 erzählt, ist eine wüste Fantasie, in der die Leichenteile, der Seziertisch und die Kerzen sich zum Szenenbild der nahenden Menschheitsdämmerung vermischen.
Ob arglose Notiz oder großes Kino: Kein zweiter Künstler hat sich so eigenwillig in die Kunstgeschichte eingeschrieben. Auch der Zeichner Beckmann hat immer gewusst, was er dem Maler Beckmann schuldig ist.
Städel Museum Frankfurt, bis 15. März 2026
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