Vergangenes Wochenende fand in Zürich die Konferenz „Der große Kanton. Rise & Fall of the BRD“ statt. Zwei Tage lang lasen dort einige Leute Deutschland die Leviten, darunter der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen und der „FAZ“-Redakteur Patrick Bahners. Es soll sich, wie die „Süddeutsche“ ehrfürchtig bemerkte, um einen „eindrucksvoll großen Teil der progressiven linken Intelligenz der Gegenwart“ gehandelt haben. Wobei man sich fragt, wie denn dann die rückschrittliche linke Intelligenz ihr Wochenende gestaltete oder ob sie überhaupt eingeladen war.

Wahrscheinlich nicht, wie das Poster der Veranstaltung nahelegt. Es zeigt eine mit Buntstiften gekritzelte Deutschlandkarte, auf der da, wo Berlin sein müsste, eine „Staatsräson Festung“ liegt. Weitere Sehenswürdigkeiten: Bergen-Belsen, Stammheim, Persil, Hanau – mit dem ironischen Hinweis „Einzelfall“, Rostock-Lichtenhagen, ein „Ankerzentrum“ an der südlichen Grenze, Dachau. Im Südwesten steht die „Wacht am Rhein“, der populäre Nazi-Schlager. Im Norden reckt sich keck eine Nordstream-Pipeline aus dem Bild.

Es handelt sich offenbar weniger um die Kartierung einer Region als eines Weltbilds. Deutschland ist demnach eine Ansammlung von Konzentrationslagern, liebäugelt mit Russland und hat sich in unverbrüchlicher Israel-Treue eingemauert. Das postulierte gleichzeitige Fortleben von KZ-Geist und Bekämpfung des Antisemitismus ist auf den ersten Blick widersprüchlich und bedarf der Erklärung. Tatsächlich scheiden sich hier die Geister der selbsterklärt progressiven Linken und ihres „reaktionären“ Widerparts, also jener, die nicht finden, dass die Unterstützung Israels im Kampf gegen den Hamas-Terror bloß ein Deckmäntelchen der Deutschen sei, um ungestört ihrer Lieblingsbeschäftigung zu frönen – fiesem Rassismus, neuerdings eben in Form von Antiislamismus.

Klingt nicht unkompliziert, aber so sind sie, die Intellektuellen. Nervenstarke Zeitgenossen können weite Teile der Konferenz streamen, bis auf die problematischsten Beiträge, die wurden vorsorglich getilgt, ähnlich der Art, wie Stalin unliebsame Ex-Mitstreiter von Fotografien retuschieren ließ. Namentlich fand Eyal Weizman vom Recherchekollektiv Forensic Architecture, die Singularität des Holocaust bestehe darin, dass die Täter eine Wiedergutmachung angeboten hätten. Und, so Weizman weiter, wer einen Genozid in Gaza verneine, verneine auch den Holocaust.

Da mögen selbst die Veranstalter geschluckt haben, unter ihnen Emily Dische-Becker, bekannt für ihr Engagement für eine antisemitische Documenta. Das Weizman-Video soll, nachdem die „NZZ“ über die Zensur die Nase rümpfte, unter kreativen Entschuldigungen nachgereicht worden sein.

Deutschland marschiere Richtung Faschismus, so der Befund. Grundrechte würden einem autoritären Staat preisgegeben, der Zugewanderte zu Sündenböcken erkläre. Solche Meinungen würden hierzulande aber „plattgemacht“, wie die Autorin Eva Menasse sagte, daher die Flucht ins Schweizer „Exil“. Der Kulturwissenschaftler Simon Strick legte die Bundesrepublik auf die Couch: Die Wahrnehmung der Realität sei von „paranoiden Traumwelten“ geprägt. Dass an jeder Ecke islamistische Attentäter lauerten, habe sich zum „dominanten Vorstellungsparadigma“ entwickelt. Er diagnostizierte den Deutschen eine „Massenpsychose“.

Wenn er da mal nicht zu tief in den Spiegel geschaut hat. Die Konferenz, mit Zehntausenden Franken gefördert, fand im Zürcher Kunsthaus statt, berühmt für die Sammlung Bührle, eines Waffenfabrikanten, der sich von den Nazis fürstlich bezahlen ließ und Juden auf der Flucht für Renoirs, Monets und Cézannes mit Kleingeld abspeiste. Irgendwer muss der progressiven Linken nun mal die Hors d’œuvres spendieren.

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