Als er am 25. November 2022 achtzig wurde, hatte er es endgültig geschafft. Seinen runden Geburtstag feierte er in der Galerie Mond in Berlin-Charlottenburg. Da hatte man dem König der Schwulen ein Podest errichtet und darauf einen Thron gestellt. Es war der erste Coronawinter ohne Lockdown, und man hielt noch allgemein auf Abstand. König Rosa I. thronte also auf seinem Podest. Eine Krone zierte sein Haupt. Mund und Nase waren durch eine Maske bedeckt. Er sagte keinen Ton. Dafür nahm er mit gnädigem Nicken Glückwünsche, Geschenke und andere Huldigungen entgegen.

Rosa von Praunheim, der anfänglich als Holger Mischwitzky durchs Leben ging, war mit den Jahrzehnten eine Kunstfigur geworden. Er kostümierte und inszenierte sich, wo er ging und stand. Am liebsten als Zauberer. Aber auch hin und wieder als Dompteur, als Clown. In jüngeren Jahren hatte er die Sexbombe gegeben (bevorzugte Jagdreviere: Preußenpark in Berlin-Wilmersdorf sowie das Stadtbad Wilmersdorf, im Volksmund „Tuntenaquarium“ genannt). Nun war er also König. Und zwar mit einigem Recht.

Zu den vielen Gratulanten an seinem Achtzigsten gehörte auch der Queer-Beauftragte der damaligen Bundesregierung. Und der bescheinigte dem Jubilar: „Ohne Dich gäbe es mich vielleicht gar nicht.“ Wohl wahr! Er wies auf die epochemachende Wirkung von Praunheims Dokumentarfilm von 1970 hin, der den später sprichwörtlichen Titel trug: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.

Und der Queerbeauftragte fügte hinzu: „Dein Film änderte alles. Er ging hart mit der Angepasstheit schwuler Männer ins Gericht. Er stiftete Unruhe und gab den Anstoß für Emanzipationsgruppen und Aktionen in ganz Deutschland, für die ersten CSDs und für den Marsch durch die Institutionen. Du wolltest und willst keine Anpassung, sondern Akzeptanz. Das Private war für Dich immer politisch.“

Wem das nach den Parolen der Siebzigerjahre klingt, liegt ganz richtig. Der Filmemacher und Aktivist, der Dichter und Stückeschreiber Rosa von Praunheim war mit jedem Zoll ein Geschöpf jenes Jahrzehnts. War es als Künstler, und war es als gesellschaftskritischer Kopf. Er war und blieb ein Kind von Flower-Power, Hippies, Provos, Spontis. Nicht mehr von Marx und Coca-Cola. Das waren ja die Sechziger. Keinerlei Wille mehr zu welchem politisch-philosophischen System auch immer. Aber natürlich links, anti-bürgerlich und gegen alles Autoritäre.

Damit eckte er an. Schon sowieso bei den „Scheiß-Heteros“, wie er konziliant einige Herrschaften vom anderen Ufer nannte. Aber auch in der Gay Community. Als er in der Aidskrise zur Vorsicht und zu Safer Sex riet, rief er all diejenigen auf den Plan, die sich das anarchische Rumvögeln nicht nehmen lassen wollten, weil man ja damit nur den „Gauweilern“ (nach dem damaligen Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, der für einige Jahre die Darkrooms verbot) in die Hände spiele.

Als er die Fernseh-Größen Hape Kerkeling und Alfred Biolek outete, erntete Praunheim auch nicht bei allen Schwulen Beifall. Und es gab stets bürgerliche Homosexuelle, die es nicht so toll fanden, dass Praunheim mit seinem Gehabe doch nur wieder das Klischee bediente, Gleichgeschlechtliche seien halt Exoten.

Doch es half alles nichts: Rosa von Praunheim war seit seinem bereits zitierten filmischen Meilenstein von 1970 der repräsentative deutsche Schwule schlechthin. Und auch wenn er, wie jetzt eine Blitzumfrage unter Dreißigjährigen ergab, den Jüngeren kein Begriff mehr ist, so behielt er doch zumindest im Kulturbetrieb bis zum heutigen Tag eine gewisse Notorietät. Denn er schleuderte fast bis zu seinem Tod unablässig neue Filme, Gedichte, Gemälde, Musicals, Theaterstücke und Bücher aus sich heraus. Sein Markenzeichen dabei: das von ihm über die Maßen geliebte Adjektiv „pervers“.

„Fünfzig Jahre pervers“

„Armee der Liebenden – Aufstand der Perversen“ hieß 1979 ein Film von ihm, der die amerikanische Szene unter die Lupe nahm. Seine – übrigens hinreißend temperamentvoll geschriebenen, so oft freiwillig wie unfreiwillig komischen – Memoiren überschrieb er 1992 mit: „Fünfzig Jahre pervers“. Und als 82-Jähriger bescherte er den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin einen Publikumserfolg mit dem Polit-Kabarett „Insel der Perversen“. Dort verbannt eine mittlerweile zur Macht gelangte Regierungsdoppelspitze, bestehend aus Alice Weidel und Sahra Wagenknecht, alle Menschen, die sich nicht zu strammem Deutschtum bekehren, auf besagtes Eiland.

Denn die Homosexuellen mochten inzwischen heiraten und Kinder adoptieren dürfen. Sie mochten in die höchsten gesellschaftlichen Stellungen aufsteigen und alle Akzeptanz der Welt genießen, um nicht zu sagen: von ihrer Queerness und Diversity handfeste berufliche Vorteile genießen: Für den König der Schwulen hatten sie pervers zu sein. Wer da nicht mitmachen wollte, galt schnell als spießig und wurde im Gespräch gern mit bohrenden Fragen zu seinem Geschlechtsleben konfrontiert: „Hast Du guten Sex? Wann hattest Du das letzte Mal Sex? Und wie oft masturbierst Du so am Tag?“

Bei derartig gut geölter Provokationsmaschinerie war man erstaunt, wie diszipliniert sich Rosa von Praunheim bei der filmischen Zusammenarbeit zeigte. Und da er sieben Jahre lang eine Professur für Filmregie an der Freien Universität Berlin bekleidete, gibt es eine stattliche Anzahl von Schülern, die sich zu ihm bekennen. Zu ihnen zählen beispielsweise Julia von Heinz und Tom Tykwer. Ins Opernfach wechselte Axel Ranisch. Unter den Dokumentaristen ist Tim Lienhard zu nennen, auch wenn er nicht bei Praunheim studiert hat.

Von Praunheims vielgestaltigem künstlerischem Schaffen war bereits die Rede. Es ließ immer den Autodidakten erkennen, wirkte improvisiert und hobbymäßig. Professionell arbeitete er lediglich als Filmregisseur. Cineastische Meisterwerke hat er zwar selten hervorgebracht. Aber viele freche, fröhliche Porträts von starken, nicht selten durchgeknallten Frauen oder verhaltensauffälligen, selbstredend überwiegend homosexuellen Männern. Sowie jede Menge flinke Zeitgeistprotokolle, sämtlich als Low-Budget-Produktionen gedreht.

Unvergessen bleiben von den Frauenfilmen die überkandidelte „Bettwurst“ (1971) oder die herrlich ausgelassene Doku „Unsere Leichen leben noch“ mit der lebensklugen Ulknudel Lotti Huber als Hauptdarstellerin (1981). Mitten in der Zeit der großen Angst wirkte die musikalische Aids-Revue „Ein Virus kennt keine Moral“ 1984 wie ein Antidepressivum.

Ausflüge in die Kulturgeschichte wie „Knaben liebt ich wohl auch“ über sogenannte Männerfreundschaften im 18. Jahrhundert (2018) oder die Semifiction über Rex Gildo, den deutschen Schlagerstar der Sechziger und Siebziger Jahre („Der letzte Tanz“, 2022), krankten ein wenig an den begrenzten Ausdrucksmitteln ihrer Laiendarsteller. Doch anregend war das alles immer.

Und durch und durch Ausweis einer Persönlichkeit, die sich mit ihrer Verhaftung in der Sponti-Ästhetik der Siebzigerjahre zeitlebens treu geblieben ist. Der Mann, der als Baby in einem Säuglingsheim gefunden wurde, im besetzten Riga, wo seine leibliche Mutter wahrscheinlich als Prostituierte gearbeitet hat; der im Frankfurter Stadtteil Praunheim aufwuchs; der sich dann Rosa nannte im respektvollen Gedenken an die vielen mit rosa Winkeln gekennzeichneten schwulen KZ-Insassen in der NS-Zeit: Er war ein Homosexueller, der in jeder Hinsicht lebte, was die amerikanische Schwulenbewegung mit dem Slogan proud to be gay propagierte.

Doch gleichzeitig brachte Rosa von Praunheim das schöne Wort in Umlauf „Schwul allein ist nicht abendfüllend“. Entgegen allen identitätspolitischen Parolen, die unsere Gegenwart künstlerisch so öde machen, hielt er fest an dem Glauben, dass es nicht nur darauf ankommt, woher und mit welcher genetischen Ausstattung jemand kommt, sondern auch und sogar vor allem anderen, wohin er geht. Das war der eigentlich emanzipatorische Akt seiner Existenz und seines Werks. Er vollzog ihn, wie nur er ihn vollziehen konnte. Aber damit hat er Unzähligen dabei geholfen, sie selbst zu werden. Ein großer Helfer zur Selbsthilfe ist von uns gegangen: Rosa von Praunheim ist am Dienstag 83-jährig in Berlin verstorben.

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