Herbst in Belgrad, aber kein Bitef-Festival? Eigentlich unvorstellbar. Seit fast 60 Jahren trifft sich die Theaterszene des Balkans jedes Jahr in der serbischen Hauptstadt. Es werden neue Stücke aus dem In- und Ausland gezeigt, Preise vergeben und Debatten geführt. Normalerweise.
Doch seit einem Jahr ist in Serbien nichts mehr normal. Eine riesige Protestwelle hat das Land erfasst, die Regierung setzt auf Repression. Ein Machtkampf, der auch das Bitef erfasst hat. Erstmals in seiner langen Geschichte wird das Theaterfestival nach Budgetkürzungen und Zensurvorwürfen abgesagt. Doch Mitte Dezember gibt es eine Untergrundausgabe als Ersatz: das sogenannte Non:Bitef.
Das Taxi vom Flughafen zur Fakultät der dramatischen Künste bremst ab, es geht nicht mehr weiter. „Blockade“, sagt der Fahrer. Er wirkt nicht überrascht. Ein Polizeiauto mit Blaulicht leitet den Verkehr um. Aus der Ferne sieht man ungefähr 100 bis 150 Menschen, die inmitten der beeindruckenden Betonburgen von Neu-Belgrad auf der Straße stehen.
Der Taxifahrer gibt zu verstehen, dass der Rest des Weges zu Fuß absolviert werden muss. Die Fakultät der dramatischen Künste, kurz: FDU, sei direkt bei der Demonstration. Sobald man sich der Gruppe nähert, fällt die Stille auf. Alle schweigen, ganze 16 Minuten für die 16 Toten vom Bahnhofsunglück von Novi Sad.
Was man heute die größten Studentenproteste in Europa seit 1968 nennt, begann genau hier vor der FDU: als schweigender Protest. Drei Wochen nachdem am 1. November vergangenen Jahres im nordserbischen Novi Sad ein Bahnhofsvordach einstürzte, versammelten sich Studenten vor ihrer Universität zum Gedenken – und wurden attackiert. Die Angreifer, so hört man immer wieder, sollen von der regierenden Serbischen Fortschrittspartei instruiert worden sein. Bilder des Angriffs lösten in Serbien eine eruptive Empörung aus. Zehntausende Studenten gingen im ganzen Land auf die Straße: gegen die herrschende Politik, gegen die Regierung und gegen Korruption.
An den Fensterscheiben der FDU kleben Zettel mit Protestbotschaften. Die Universität, ein modernistischer Betonbau mit dem Genex-Turm – eine brutalistische Ikone des 20. Jahrhunderts – in Sichtweite, wurde wochenlang von Studenten besetzt. Bei der philosophischen Fakultät in der Belgrader Altstadt sieht es ähnlich aus, viele Zettel und Plakate. Auf einem steht: „Vivat Academia, Vivant Professores!“ Und immer wieder der Schlachtruf der Studenten: „Svi u blokade“. Das heißt so viel wie: alle in der Blockade.
Wo steht die Theaterszene ein Jahr nach Beginn der Proteste? Beim Eröffnungspodium des Non-Bitef wird berichtet, wie jede Sympathiebekundung mit den Protesten zu drastischen Strafen führt. Und zwar bis hin zur Entlassung, wie am Šabac-Theater, einer der ältesten und traditionsreichsten Bühnen des Landes.
Auf dem Podium im gut gefüllten Hörsaal der FDU sitzt auch Milo Rau. Er ist der Auslöser, warum das Bitef abgesagt wurde. Genauer gesagt war es die Rede des Intendanten der Wiener Festwochen, die im Vorjahr das Festival eröffnete und ein Paradeprojekt von EU und serbischer Regierung kritisierte: den Lithiumdeal mit dem Bergbaukonzern Rio Tinto.
War Raus Rede zu radikal? Wen auch immer man dieser Tage in Belgrad fragt, man bekommt immer die gleiche Antwort: Was Rau kritisierte, war „basic“ oder „common sense“. Nichts mit radikal. Wie viele Experten sagte Rau nur, dass der geplante Lithiumabbau in Serbien die Umwelt zerstören würde. Genau wie in Brasilien, wo Rio Tinto Bauxit abbaut – unter anderem für die E-Flotte von Volkswagen.
Was der Amazonas und Serbien gemein haben
Eine naheliegende Parallele: Rau war mit seinem Stück „Antigone im Amazonas“ eingeladen, in dem es um Protest und Polizeigewalt im Amazonasgebiet geht. Und so kam Rau auf die Proteste gegen Rio Tinto in Serbien zu sprechen. Wie unkontrovers das war, zeigt die unmittelbare Reaktion auf die Rede. Es gab nämlich keine, es passierte erst einmal – nichts.
Alles änderte sich kurz darauf, mit den Protesten ab dem 1. November 2024. Das einstürzende Bahnhofsdach, das zufällige Passanten unter sich begrub, wurde für viele vor allem junge Serben zum Symbol eines maroden Systems, dem die einfachen Leute schlicht egal sind. Das entzündete die Unzufriedenheit, die nicht nur wegen des Lithiumabbaus durch Rio Tinto bereits im Land gärte. In Belgrad sorgen die Hotel- und Bürotürme, Shopping Malls und Luxusapartments, die am Ufer der Save hochgezogen werden, für Unmut. Für das milliardenschwere Investmentparadies Belgrade Waterfront mussten alte Stadtquartiere weichen, das Geld kommt vor allem aus Saudi-Arabien.
Beim Auftakt des Non:Bitef geht es noch um ein weiteres Beispiel aus Belgrad, um den Generalštab. Das von den Nato-Angriffen 1999 zerstörte Gebäude hat nationalen Symbolwert. Von dem Plakat an der Fassade grüßen heute vermummte Soldaten mit der Parole „Wir dienen Serbien“. Weil Donald Trumps Schwiegersohn Jared Kushner aus dem Gebäudekomplex ein Luxusressort machen wollte, hebelte die Regierung die gesetzlichen Vorgaben aus. Was man beim Podium des Non:Bitef noch nicht wissen konnte: Einen Tag später wird der serbische Kulturminister wegen Amtsmissbrauch und Urkundenfälschung angeklagt, gefolgt von Kushners Mitteilung, das Projekt aufzugeben.
Ob Rio Tinto, Belgrade Waterfront oder Generalštab, die serbische Bevölkerung hat offenbar immer mehr den Eindruck, die Regierung diene mehr den Interessen der Investoren – egal ob aus der EU oder vom Golf, aus den USA oder Russland – als denen des Volkes. Es wirkt wie ein Ausverkauf des Landes, der den Volkszorn brodeln lässt. Linke Sticker, die man in Belgrad allerorts sieht, beschwören bereits einen neuen Partisanengeist: Hakenkreuz, EU-Flagge und Nato-Stern sind durchgestrichen, man bekämpft jede „Okkupation“. Und weil die Studentenproteste den schwelenden Mix aus Wut und Ohnmacht entflammt haben, wird auch Raus Rede plötzlich zum Politikum.
Als Raus Name im Programmentwurf für das Bitef 2025 auftaucht, fordert der Vorstand seine Ausladung, er gilt als „unerwünschte Person“. Daraufhin tritt die künstlerische Leitung zurück, das Bitef fällt aus. „Wir erleben einen europäischen Kulturkampf“, sagt Rau im Hörsaal der FDU. „Die Kultur wird attackiert, aber eigentlich geht es um die liberale Demokratie“. Warnende Beispiele seien Russland, Ungarn, die Slowakei und jetzt Serbien. „Resistance Now Together“ wird hinter dem Podium auf die Wand projiziert. „Resistance Now“ ist auch der Name von Raus Kampagne, die Kunstfreiheit durch EU-Recht schützen lassen will. Serbien ist immerhin EU-Beitrittskandidat.
Am Abend wird der „Der Prozess Pelicot“ von Servan Dècle und Rau gezeigt. Für Belgrad hat der 48-jährige Schweizer eine neue Version des eindringlichen Lesedramas über die Vergewaltigung von Gisèle Pelicot gemacht, das auch beim abgesagten Bitef gezeigt werden sollte. Auf der Bühne lesen unter anderem der ehemalige künstlerische Leiter des Bitef und die entlassene Leiterin des Šabac-Theaters. Das viereinhalbstündige Stück wird live in Theater von Ljubljana über Novi Sad bis Skopje übertragen. Innerhalb von 24 Stunden gibt es auf YouTube über 20.000 Aufrufe. Eine überwältigende Resonanz.
Am nächsten Tag geht das Non:Bitef in einem unabhängigen Kulturzentrum in der Altstadt weiter. Im Keller präsentieren zwei Regiestudenten der FDU Videos und Texte von früheren Studentenprotesten in Serbien. Ob 1936, 1968 oder 1996, immer ging es um die Autonomie der Universität, das Ende der Repression durch Regierung und Polizei und die Verbesserung der Lage der Studenten. Im oberen Stockwerk zeigt Ana Janković ihre Installation „Suicide as a social act“. Die 33-Jährige spielt Balkanfolklore auf dem Klavier, während im Hintergrund ein Hardcore-SM-Porno läuft.
Janković hat nach ihrem Regieabschluss zwar zwei vielbeachtete und von der Kritik gelobte Theaterstücke gemacht, doch leben kann sie davon nicht. Wie so viele arbeitet sie schwarz im Café oder als Stripperin. „Das ist der Lebenslauf aller jungen Künstler in Serbien“, steht auf einem Zettel an der Wand. „Es ist deprimierend, aber man kann nur noch das Land verlassen“, sagt Janković. „Wir haben ein Jahr protestiert, verändert hat sich nichts.“
In einer Galerie nebenan haben die Regiestudentin Andreja Kargačin und die Schauspielerin Natalija Stepanović eine theatrale Installation über Doroteja Antić gemacht, eine seit den Protesten landesweit bekannte Studentin. Kargačin erzählt, dass ihre Kindheitsfreundin Antić vor einem grotesken Prozess ins Ausland geflüchtet sei. Auf verspiegelten Podesten liegen Gegenstände, die für die Protestgeschichte der 24-Jährigen stehen: der von der Regierung eingezogene Pass, eine Metallkette, eine Rose. Stepanović liest aus Briefen von Antić. Beide sind seit Beginn bei den Protesten dabei, sie sind 25 und 23 Jahre alt. „Man muss sich jeden Tag entscheiden, ob man sich Angst machen lässt oder nicht“, sagt Kargačin, die einen „Svi u Blokade“-Anstecker trägt.
Wer auftritt, macht das ohne Honorar
Als Künstler in Serbien muss man sich auch entscheiden, inwieweit man finanzielle Einbußen in Kauf nehmen will. Wer beim Non-Bitef auftritt, macht das ohne Honorar. Es gibt kein Budget, nur das Goethe-Institut hat etwas Geld gegeben. Ein in Serbien berühmter TV-Koch, der seine Sendung verloren hat, nachdem er für Studenten kochte, macht ein Essen. Die Berliner Volksbühne ist mit einem Punkkonzert zu vergessenen Arbeiterkämpfen beteiligt, Regiestar Romeo Castellucci zeigt mit „Bros“ ein Stück über Polizeibrutalität als Stream. Für die widrigen Umstände ein beachtliches Programm.
Das richtige Bitef ersetzen kann die Untergrundausgabe jedoch nicht. „Es fühlt sich an, als wäre eine nahe Person gestorben“, sagt Ksenija Đurović. Seit 2010 ist die 39-Jährige an der Organisation des Bitef beteiligt, seit zwei Jahren als Geschäftsführerin. Wie die Zukunft des zusammengesparten Festivals aussieht? Wird es nächstes Jahr eine nachgeholte 59. Ausgabe geben? Wird wie geplant das 60. Jubiläum gefeiert? Oder droht im schlimmsten Fall gar eine weitere Absage?
„Ich kann über die Zukunft nicht nachdenken“, sagt Đurović. „In diesem politischen Klima kann wirklich alles passieren.“ Unruhige und unsichere Zeiten hat das Bitef wie zu Zeiten des Krieges oder nach der Bombardierung Belgrads zwar schon öfters erlebt, doch dieser Tage ist völlig unklar, wie es für das wichtigste Theaterfestival des Balkans weitergehen kann. Oder ob überhaupt.
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