Von Bahnen, Bussen und vom Nahverkehr als solchem konnte Knigge noch nichts wissen, als er 1788 schrieb: „Vor einem grauen Haupte sollst du aufstehen! Ehre das Alter!“ Heute wäre der Freiherr bestürzt, zu sehen, dass seine Benimmregel, zumindest im ÖPNV, kaum noch befolgt wird. Greise stehen, während sich die Jugend auf den Sitzen breitmacht und sich nicht die Spur um graue Häupter und gebeugte Rücken schert. Es könnte an den Smartphones liegen, allerdings auch am allgemeinen Verfall der Sitten.
Andererseits muss alles, was mit Anstand und Manieren gemeint ist, immer wieder neu verhandelt werden. Andere Zeiten werfen neue Fragen auf. Knigge wusste auch wenig über Frauen. „Über den Umgang mit Menschen“, seine Benimmfibel, wandte sich ausdrücklich an Männer: „Wir werden täglich gewahr, dass die klügsten und gelehrtesten Männer unglücklich genug sind, durch den Mangel einer gewissen Gewandtheit, zurückgesetzt zu bleiben, und dass die Geistreichsten, von der Natur mit allen inneren und äußeren Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu gefallen, zu glänzen verstehen.“
Ein Kapitel widmete der Freiherr dem „Umgang mit Frauenzimmern“. Männer sollten nett zu ihnen sein, aber keineswegs unterwürfig. 1797 legte Johann Christian Siede einen Ratgeber für Frauen vor: „Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit der aufblühenden weiblichen Jugend geweiht“. Mehr als im Titel steht auch nicht im ganzen Buch.
Am interessantesten wäre heute die Frage: Sollen alte Männer jungen Müttern ihren Platz anbieten? Geht Schwanger- und Mutterschaft vor Alter? Die Moralphilosophie hält für das Alter einiges bereit. Nach Seneca, dem Stoiker, lebt es sich erst im Alter wirklich frei, ohne ständig von Leidenschaften und Begierden eingeengt zu werden. Geist und Seele seien stärker als in einem jungen Körper. An Lucilius schrieb er: „Kraftvoll ist der Geist und froh darüber, dass er nicht mehr viel mit dem Körper gemein hat; einen Großteil seiner Last hat er abgelegt. Er jubelt und beginnt mit mir einen Wortwechsel wegen des Greisenalters: Dieses, sagt er, stelle seine Blütezeit dar. Glauben wir ihm. Gibt es einen Grund zur Klage, ist es ein Schaden, wenn all das, was aufhören musste, zur Neige gegangen ist?“
Geradezu unwirsch arbeitete Aristoteles sich in seiner „Rhetorik“ am Begriff des Alters ab. Er fand ihn ungenau und unscharf, was „in der Natur der Sache“ liege. Erst im 20. Jahrhundert untersuchten Ethiker die Kränkung durch das Alter. So setzte Jean Améry sich über das aristotelische „Man ist so alt, wie man sich fühlt“ hinweg und schrieb, das Alter sei ein „Faktum des Körpers – des hinfälligen Körpers in diesem Falle − das nicht nur der subjektiven Qualität des Alterns die spezifische Farbe gibt, sondern das auch die gesellschaftlichen Wirkungen primär und unmittelbar auslöst“.
Alter wurde zu einer sozialen Angelegenheit, die nicht nur Achtung vor der Weisheit einforderte, sondern auch eine besondere Rücksichtnahme auf das Alter und seine Gebrechen. Muss die Jugend davor aufspringen und ihren Platz räumen? Auch wenn die Jugend eine Frau und schwanger oder Mutter ist mit kleinen Kindern?
Dazu äußert sich die klassische Moralphilosophie erstaunlich einsilbig. Sokrates wird das Wort „Mäeutik“ zugeschrieben, die hohe Hebammenkunst. Das war’s aber auch schon. Da mussten erst die Frauen selbst zu Schriftgelehrten werden. Hannah Arendt führte die Begriffe der „Gebürtlichkeit“ oder „Natalität“ ein, um den Neuanfang, den jedes Kind verkörpert, zu beschreiben: „Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.“
Für Simone de Beauvoir wurde die Frau erst durch die aktive Geburtenkontrolle befreit in ihrer Mutterschaft. Männer hielten sich weitgehend zurück zum Thema. Nach Nietzsche und Schopenhauer konnten Frauen ohnehin nicht denken und nur fühlen.
Im sozialen Alltag, der sich nirgends so verdichtet wie im öffentlichen Nahverkehr, in überfüllten Bussen und Bahnen mit Sitzplatzmangel, stellen sich heute auch andere Fragen, von denen Sokratiker und Stoiker, die früheren und späteren Knigges wenig ahnen konnten. Ist die junge Frau vielleicht nur füllig? Ist die alte Frau vielleicht beleidigt, weil sie gar nicht alt aussehen will? Und was heißt Höflichsein im 21. Jahrhundert? Sind Kulturtechniken wie das Türaufhalten für die Frau oder den Mann, egal wie alt, der nach mir durch die Tür muss, antiquiert und albern? Hat sich niemand mehr daran zu stören, wenn jemand telefoniert und tiktokt ohne Kopfhörer?
Schon Goethe war ein Skeptiker des Anstands, als er seinem Faust die Worte in den Mund legte: „Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.“ Aber hier irrte Goethe, er meinte die Etikette. „Die Höflichkeit dient dem Gegenüber, die Etikette dagegen demjenigen, der sich an sie hält, selbst“, schreibt Rainer Erlinger in seinem postmodernen Anti-Knigge „Höflichkeit – Vom Wert einer wertlosen Tugend“.
Der Ton wird im Alltag rüder und die Sitten auf der Straße roher. Auch das könnte an den Smartphones und sozialen Medien liegen, am Narzissmus des vereinzelten, vernetzten Daseins. Aber auch der echte Mensch im analogen öffentlichen Raum ist kein Mensch ohne Resonanz. Es geht um Takt für den täglichen Tanz um Achtung und Respekt, um Empathie und Umsicht, den jeder in jeder Lebenslage mit dem Gegenüber immer wieder anders aufführt.
Ein älterer Mann bietet der jüngeren Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern seinen Sitzplatz an, weil sie ihn an den müden Vater, der er einmal war, erinnern und an seine beiden Kinder, als sie weder stehen noch still sitzen konnten. Eine junge Frau steht für ihn auf.
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