Irgendwann verliert der junge Mann, nennen wir ihn hier einfach mal Erik, dann doch die Geduld. Er wolle ihr ja helfen, schreibt er, aber so langsam habe er das Gefühl, dass es ihr alles nicht schnell genug gehen würde. Dabei gebe er sich doch wirklich Mühe. Immerhin, so schreibt Erik weiter, habe er es geschafft, innerhalb kürzester Zeit das Geld aufzutreiben, das sie so dringend bräuchte. 13.500 Euro habe sie gesagt, fast die gesamte Summe habe er innerhalb von nur einem Tag zusammenbekommen. Und jetzt will sie ihm noch immer nicht verraten, wofür sie diese Summe denn eigentlich benötige, obwohl sie ihm versprochen habe, es zu erzählen.
Sie, das ist Gwendolyn, Anfang 20, eine halbwegs bekannte Influencerin unter dem Namen gwendolynceline: 556.000 Follower auf Instagram, 1,7 Millionen Follower auf TikTok. Zumindest glaubt Erik das. „Doch“, schreibt Gwendolyn zurück. „HEY. Nicht so!!!“ Sie scheint enttäuscht zu sein. „Ich halte meine Versprechen“, schreibt sie demonstrativ beleidigt, und dann: „RIP Herz grad“. Dann sagt sie, dass das mit dem Geld etwas mit ihrem Ex zu tun habe, genauer würde sie da aber nicht drauf eingehen wollen, denn das ständige Drängen würde sie irgendwie retraumatisieren. Erik solle also bitte einfach nur zahlen und lieber nicht so viel nachfragen.
Erik schreibt gerade mit einem großen Influencer, der in Probleme geraten ist. Zumindest glaubt Erik das. Erik ist einer von Gwendolyns größten Fans. In Wahrheit chattet er aber gar nicht mit ihr, sondern mit irgendeinem anonymen Agentur-Mitarbeiter, der ihn so gezielt manipuliert, dass er bereit ist, hohe Summen zu überweisen, wie der YouTuber Ron Bubble in einer großen Recherche nun aufdeckte. Und Erik ist kein Einzelfall. Hinter der Betrugsmasche steckt ein breit aufgebautes System. 1,5 Millionen Mal wurde das Aufdeck-Video bereits geklickt.
Ein kurzer Blick zurück: 2009 gründete der deutsche Influencer Jens „Knossi“ Knossalla die Digital-Blast GmbH und konnte dafür Investoren wie die Flixbus-Gründer, Universal Music oder namhafte TV-Produzenten gewinnen. Sein Produkt „FanBlast“ verspricht einen direkten Kontakt zwischen Fan und Influencer. Dabei wird ein Programm installiert, das die Benutzeroberfläche von WhatsApp simuliert. Man bekommt eine Handynummer und kann seinem „Star“ direkt schreiben. Für Geld.
Die Enthüllung ist das Skandal-Thema der letzten Tage
Doch in Wahrheit soll zumindest in einigen Fällen eine Firma namens Oasis zwischengeschaltet worden sein, die die Kommunikation anstelle der Influencer übernommen hat. Damit das nicht auffiel, wurden Steckbriefe und Tutorials ausgearbeitet, es gab vorgefertigte Fotos und Sprachnachrichten sowie eine Synchronisation mit den Zeiten, an denen die Influencer live gestreamt haben, damit sie in dieser Zeit keine Nachrichten versenden. Drohte das System trotzdem aufzufliegen, sollen die Influencer im Fall der Fälle noch einmal personalisierte Sprachnachrichten aufnehmen.
Ganz neu ist das Phänomen nicht: Auch auf der Erotik-Plattform OnlyFans wird Nutzern ermöglicht, erotische Gespräche gegen Geld zu führen – in vielen Fällen stehen aber Agenturen oder indische Callcenter-Agenten hinter den Chats.
Immer wieder wurden den Nutzern dabei Angebote gemacht, kostenpflichtige Inhalte zusätzlich zu kaufen – oder eben direkt Geldüberweisungen vorzunehmen. Knossalla selbst distanziert sich mittlerweile von den Machenschaften der Firma, an der er nur noch einen Minderheitenanteil hält.
Problematische Kommerzialisierung von Nähe
In sozialen Netzwerken und auf YouTube ist die Enthüllung jetzt das Skandal-Thema der vergangenen Tage, die tatsächliche Brisanz liegt aber nicht bloß im betrügerischen Fehlverhalten einzelner Akteure, nein, der eigentliche Kern und das Empörungspotenzial liegen viel tiefer. Es geht um die problematische Kommerzialisierung von Nähe. Mit dem Aufkommen sozialer Medien und dem Siegeszug der sogenannten Influencer ist erneut das psychologische Phänomen der parasozialen Beziehung in den Fokus gerückt: eine einseitige Bindung an eine öffentliche Figur, die mit der Illusion verbunden ist, sich auf Augenhöhe zu befinden.
Tatsächlich spielen Influencer genau mit dieser Illusion. Ihr Erfolg liegt in der möglichst authentischen Vermittlung des Gefühls, sich mit dem Follower auf Augenhöhe zu befinden, Einblicke in das eigene Leben zu gewähren, das so ähnlich sei wie das eigene ist dabei Mittel zum Zweck. Das „Star“-Konzept, das seinen Namen trägt, weil Prominenz als etwas Erhobenes, Unerreichbares wahrgenommen wird, ist ein Phänomen der Vergangenheit. Heute suggeriert man: Star und Fan, das liegt ganz nah beieinander. Du kannst sein wie, ich bin so wie Du. Doch das Spiel mit der Nähe ist mittlerweile selbst zu einem Geschäftsmodell geworden.
Fans sind längst kein reines Publikum mehr, sondern eine Ressource. Emotionale Nähe ist eine Monetarisierungsstrategie. Und FanBlast ist vielleicht der Skandal, der genau diese Kommerzialisierung von Nähe in all ihrer Brutalität deutlich macht. Dabei ist die asymmetrische Nähe zwischen Influencer und Fan nicht der wirkliche Skandal, sondern die Simulation ihrer Aufhebung. Die Erkenntnis von gespielter Distanz statt echter Nähe, das sorgt für die Viralität, heißt das dann doch für viele: Herz RIP grad.
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