Familien, die mit viel Aufwand eine Idylle inszenieren, haben meist eine Hölle zu verbergen. In „Das Ferienhaus“ ist es ein gefeierter Star-Architekt, der sein Mies-van-der-Rohe-Paradies mit Mid-Century-Sofa, Stahlrohrmöbeln und Glasfront zum See in ein Horrorhaus verwandelt. Am Ende steht alles in Flammen. Regisseur Simon Stone, vor zehn Jahren mit seinen Klassikerüberschreibungen fürs Netflix-Zeitalter Dauergast beim Theatertreffen, kehrt mit dem von Henrik Ibsen inspirierten Familiendrama ans Wiener Burgtheater zurück. Doch so richtig zünden will „Das Ferienhaus“ nicht mehr.
Den Abstieg von der Vorzeigefamilie zur Bilderbuchhölle hat Stone in drei große Kapitel unterteilt: Paradies, Fegefeuer, Hölle. Die Dramaturgie ist simpel: Erst fällt die Fassade, danach die tragenden Mauern, zum Schluss liegt alles bis auf die Fundamente im Schutt. Das gilt – diese Parallelisierung dient als Leitmotiv – sowohl für die Familie als auch das Ferienhaus. Mit zahlreichen Zeitsprüngen erzählt Stone über knapp vier Stunden eine Familiengeschichte, die von den frühen 60er-Jahren bis an die Gegenwart reicht, von der Wiederaufbaugeneration über die Boomer bis zu den Millennials.
Bereits am Ende der flott erzählten ersten Hälfte des Abends zeichnet sich ab, dass in den Fundamenten des Baus eine Gewalt begraben ist, die später zum Sprengstoff wird. Nicht nur hat der Star-Architekt, von Michael Maertens als wahres Ekelpaket mit menschlichem Antlitz gespielt, den preisgekrönten Entwurf seines Neffen als eigenen ausgegeben, auf der Baustelle hat er sich außerdem an seiner eigenen Nichte vergangen. Wie man nach und nach erfährt, war sie nicht die einzige. Und wie man zudem herausfindet, war das in der Familie über Jahrzehnte ein offenes Geheimnis.
Der Abend ist stark, wo die Zuschauer in die fatale Katastrophe aus Missbrauch, Komplizenschaft und Verschweigen hineingezogen werden. Immer wieder schlägt die Ohnmacht in den Wunsch nach Selbst- oder Weltauslöschung um, wie bei Birgit Minichmayr als erwachsener Nichte, die sich in Alkohol zu ersäufen versucht, bevor sie das Haus in Brand steckt. Auch das von Caroline Peters und Franziska Hackl gespielte Paar legt Feuer, als klar wird, dass ihr inzwischen totes Kind dem eigenen Großvater schutz- und hilflos ausgeliefert war. Das Haus scheint wahrlich verflucht.
Melodramatisches Tremolo
Der Abend ist allerdings schwach, wo er ins Kolportagehafte kippt und vor allem in der zweiten Hälfte versucht, auch noch Aids- und Flüchtlingskrise in die Familiengeschichte zu pressen. Zudem bei der fantastischen Ensembleleistung auch noch besonders auffällt, sobald nicht jeder Ton sitzt und manche Szene durch übertriebenen Soloeinsatz an die Wand gespielt wird. Schauspieler wie Maertens, Minichmayr, Peters oder Hackl, die alle zuvor bereits mit Stone gearbeitet haben, glänzen auch dieses Mal, und mit Tristan Witzel, Leonie Rabl und Fabia Matuschek darf sich auch der Nachwuchs zeigen.
Wer jedoch den altbekannten Verdacht hegt, dass den australisch-schweizerischen Star-Regisseur an seinen Vorlagen mehr das melodramatische Tremolo interessiert als die gesellschaftlichen Konflikte, dürfte sich auch an diesem Abend bestätigt sehen. Da hat der für „Das Ferienhaus“ ausgeschlachtete Ibsen durchaus mehr zu bieten. So ganz auf der Höhe wirkt der Abend auch deswegen nicht, weil es sich um eine Adaption des bereits 2017 in Amsterdam gezeigten „Ibsen Huis“ handelt. Das leicht Angestaubte kann auch die aufgesetzt daherkommende Verlagerung nach Österreich nicht verbergen.
Es hat fast etwas Nostalgisches, diese Reise zurück in die Frühzeit von Stones Erfolg, als der heute 41-Jährige mit „Drei Schwestern“ in Basel oder „John Gabriel Borkman“ und „Hotel Strindberg“ am Burgtheater die deutschsprachige Theaterszene begeisterte. Und das mit Folgen bis heute: Sowohl sehr freie Klassikerüberschreibungen als auch an Netflix & Co. erinnernde Inszenierungen haben sich auf den großen Bühnen festgesetzt. Dass das Burgtheater dieser Tage keine neue Arbeit von Stone zeigt, wirkt in der Spielplangestaltung nicht gerade zeitgenössisch und tonangebend, eher fast museal.
Trotz dieser Einwände hat man als Zuschauer mit „Das Ferienhaus“ keinen schlechten Abend, man langweilt sich kaum. Das Bühnenbild von Lizzie Clachan ist beeindruckend, die Kostüme von Mel Page und Emma White sind schön anzuschauen. Wie bei einem ordentlichen Apokalypse-Blockbuster hat man sein klammheimliches Vergnügen, wenn diese unheile Familienwelt in Flammen aufgeht, der Minichmayr noch hinterherruft, dass nach ihrem Untergang hoffentlich einmal eine Sippe kommt, „die ganz, ganz anders ist“. Ist das schon der Hoffnungsstreif am Horizont hinterm Flammenmeer?
„Das Ferienhaus“ läuft am Burgtheater Wien.
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