Eine gute Komödie steht und fällt mit ihrer Prämisse. Sie ist das Fundament, auf das die Story und die Figuren bauen – und es im Idealfall irgendwann untergraben. „Therapie für Wikinger“ des Dänen Anders Thomas Jensen (Drehbuch und Regie) ist ein Paradebeispiel.

Die Prämisse: Um einem Verrückten, der sich für jemand anderen hält, ein eifersüchtig gehütetes Geheimnis zu entlocken, empfiehlt es sich, ihn in eine Umgebung zu versetzen, in der er sich zu Hause fühlt. Glaubt einer zum Beispiel, er sei Napoleon, muss man ihm ein Versailles hinstellen. Und hält sich jemand für John Lennon, müssen eben die Beatles wiedervereinigt werden. Da die meisten tot sind, spielen ihre Rollen am besten andere Verrückte, gecastet aus allerlei psychiatrischen Einrichtungen des Landes, in diesem Fall Dänemark. George Harrison und Paul McCartney kommen sogar aus Schweden, in Personalunion; ein einziger Mann mit melancholisch-mediterranen Zügen hält sich nicht nur für die beiden, sondern gleich für mehrere Dutzend Leute, darunter Heinrich Himmler und Björn von ABBA.

Der erste Fallstrick wäre hier, sich über Kranke lustig zu machen. Dem entkommt dieser Film nicht nur, er macht die gefährliche Schieflage zwischen „gestört“ und „normal“ auf grandiose, wenn auch vielleicht etwas vorhersehbare Weise urbar: Die vermeintlich Gehandicapten haben den empathischeren, weiseren Blick auf die Welt, und die vermeintlich Gesunden sind eigentlich diejenigen, die ihre Traumata hinter einer prekären Fassade aus Normalität eingemauert haben. Dahinter gähnt der Abgrund: ein tiefes Loch der Verdrängung, in dem entscheidende Erinnerungen verschüttgegangen sind.

So wundert sich Manfreds Bruder Anker, der mutmaßlich Normale, als er beim Umgraben eines halben Waldes auf den Totenschädel eines Hundes stößt. Er hat vergessen, dass er selbst ihn dort einst beerdigte, nachdem ihr brutaler Vater ihn vom Förster hatte erschießen lassen – zur Strafe für Manfreds Fehlverhalten. In sparsam dosierten Rückblenden entspinnt sich eine schreckliche Kindheit.

Jahrzehnte später ist Manfred in der Identität eines Fünfjährigen gefangen und ersetzt diese höchstens durch andere, erfundene Masken, von denen er hofft, dass sie die Menschen gnädiger stimmen als sein vom Vater verachtetes Ich. Wenn ihn einer nicht John Lennon nennt, wirft er sich verzweifelt aus fahrenden Autos, stürzt sich aus Krankenhausfenstern oder droht, sich mittels einer Fonduegabel zu erstechen. An den toten Hund allerdings erinnert er sich im Gegensatz zu seinem Bruder, dem Meister der Verdrängung, sehr gut.

Aber wir greifen vor. Das alles entspinnt sich erst allmählich. Der Film beginnt als vordergründige Räuberpistole: Der erwachsene Anker hat 41 Millionen Kronen geklaut und schafft es gerade noch, seinen zurückgebliebenen Bruder den Schlüssel zum Bahnhofsschließfach schlucken zu lassen, in dem er das Geld versteckt hat, bevor das Überfallkommando die Wohnungstür aufbricht und Anker für 15 Jahre im Knast verschwindet. Immer wieder soll Manfred den Schlüssel herunterschlucken und schließlich, wenn sich alles beruhigt hat, das Schließfach öffnen und die Tasche darin im Wald vergraben, nahe ihrem Elternhaus.

Sprung nach vorn: Anker wird entlassen und will nur weg, mit dem Geld natürlich. Den minderbemittelten Bruder und die kläglich kettenrauchende Schwester in ihrer miesen Sozialwohnung soll der Teufel holen. Der tritt tatsächlich auf den Plan, in Gestalt eines alten Kompagnons, noch fieser und brutaler als Anker. Er boxt allen so lange auf die Nase, bis er das Geld bekommt. Anker packt Manfred/John in seinen orangefarbenen Kleinwagen, und los geht die Hatz. Um Manfreds Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, ersinnt ein unterwegs aufgegabelter Psychiater den Trick mit der wiedervereinigten Band.

Haben wir schon erwähnt, dass der dissoziativ gestörte Bruder von Mads Mikkelsen gespielt wird? Man kennt ihn als Bondschurken und „sexiest man alive“. Hier trägt er schulterlange Dauerwelle und duldsame Leichenbittermiene. Aus figurenpsychologisch naheliegenden Gründen hält er sich eher im Hintergrund. Anker gibt die kriminelle Rampensau, doch John stiehlt jede Szene. Immer mehr schräge Charaktere bevölkern die Handlung: Die erwähnten Psycho-Beatles proben auf dem schlammigen Hof des alten Elternhauses im Wald, das ein einander in glühender Hassliebe verbundenes Paar – er gescheiterter Modedesigner, sie Ex-Handmodel – bei Airbnb vermietet. Eine Kakofonie des schwarzen Humors hebt an, ein brillanter Einfallsstrudel reißt alle Figuren – und den Zuschauer – mit sich. Wie bei den Coen Brothers oder den besten Südkoreanern („Parasite“) feiern finsterer Thriller und aberwitzige Gesellschaftssatire fröhliche Hochzeit.

Am Ende hat wirklich jeder seine persönliche Katharsis verpasst bekommen, portionsgerecht verteilt von der poetischen Gerechtigkeit. Und sogar der Hund ist wieder da. Zumindest im Kino ist der Jahreswechsel gerettet.

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