Am Mittag des 14. April 2024 kam mir auf der weinberankten Terrasse des uneingeschränkt zu empfehlenden venezianischen Restaurants „Al Nono Risorto“ der Gedanke, dass man sich den internationalen Biennale-Betrieb wie eine Abfolge von SM-Festivals vorzustellen habe. Die Kuratoren, so sinnierte ich über meinem Wolfsbarsch mit Kirschtomaten, müsse man sich als Folterknechte des Zeitgeistes vorstellen, das Publikum hingegen als masochistische Masse, in der sich niemand an ein Safeword erinnern kann.
Hatte ich mich nicht selbst in den vergangenen Tagen ausgiebig peinigen lassen und den Schmerz nur durch wiederholte Campari-Infusionen ertragen gelernt? Wie viele Strickarbeiten hatte ich gesehen? Wie viel Modernismus aus der dritten Reihe? Wie viele Wandtexte gelesen, die mir ein ums andere Mal den identitätspolitischen Hintergrund dessen erklärten, was ich im nächsten Raum schon wieder vergessen hatte? War nicht zu viel des Gutgemeinten am Ende exakt das Gegenteil von gut?
Was mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, denn ich hatte mich noch nicht auf den Weg zum Palazzetto Tito gemacht: Natürlich gab es weiter keinen besseren Ort, um die Weltkarriere eines Künstlers zu launchen, als genau hier, in Venedig, wo die Büßerhemden von Loro Piana waren und die Hoffnung auf Erlösung noch nicht erloschen.
Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde verbreitet, dass ein junger, in einem kleinen Palast ausstellender Maler all das besaß, was im Hauptprogramm der Biennale eher als Ausschlusskriterium galt: Talent, Fantasie und Ambition, und dazu – Gott bewahre – eine Eleganz und Grandezza, die man, so hörte ich, fast barock zu nennen geneigt sei. Nichts hatte mich darauf vorbereitet, was ich wenige Gehminuten später von Guglielmo Castelli zu sehen bekam.
Offenbarung im Dorsoduro von Venedig
Wie ein Fastenbrecher, der nach Wochen ungesalzener Bouillon direkt in eine Chocolaterie stolpert, stand ich im Entrée vor einem großen Gemälde mit dem Titel „Sempre Aperto Teatro“. Ich sah einen leicht diabolischen von unten heraufblickenden, mit Frack und Spitze gekleideten Herrn, der vor einem geschlossenen Vorhang eine Marionette dirigiert, die, in einer Milchlache stehend, wiederum eine zweite, kleinere Puppe steuerte.
Es war die Milch, die mich sogleich daran hinderte, der symbolischen Bedeutung des Bildes nachzugehen – stattdessen folgte ich ihrem Fluss und ihren Spritzern; wie sie sich auf dem braunen Tisch vom umgekippten Glas in eine lachsfarbene Lache ausdehnte, die mich, mit Stockflecken gesprenkelt und von den Schnüren der Marionette und ihren Schatten durchzogen, an die delikatesten alchemistischen Abstraktionen von Sigmar Polke erinnerte.
Hier, auf vielleicht 30 Quadratzentimetern Milchlache, war ich bereits mehr auf meine Kosten gekommen als in der 30 Hektar messenden Biennale-Weite des Arsenale – und das noch bevor mein Blick auf das spitznasige Gesicht des Puppetmasters fiel, seine behandschuhten Hände, auf den Faltenwurf eines braunen Stoffes auf dem sein Ellenbogen ruht. Im ersten Stock sah ich mehr. Mehr Spitzen, mehr Rüschen, mehr Falten, Gesichter wie von Porzellan-Figurinen, exquisit korsettierte Körper in unmöglichen Verrenkungen. Ich sah einen Tanz der Schatten, traumwandlerisch von Bild zu Bild wie in einer Pina-Bausch-Choreografie, und wie in deren Tanztheater spürte ich bei aller Schwerelosigkeit ein maximales Maß an Disziplin und Kontrolle.
So verwirrend es war, was er malte, so schwindelnd machte mich, wie er es tat. Immer wieder von einem Ausdruck in den nächsten kippend – als würde Francis Bacon Egon Schiele in den Pinsel greifen – zündete er auch in den dunkelsten Bildern kleine visuelle Bomben, deren Detonationen lange nachhallten.
Wie in „Shadow Landscapes“, einem Großformat im letzten Raum: Zwei Figuren im Zustand nervösester Auflösung sind von einer ovalen Fläche abgesetzt, die, von Laternen umrandet, gleichzeitig an die Terrasse in Sanssouci wie an einen der Panic-Rooms von Bacon erinnert. Jeder Körperteil der Figuren ist eine eigene Masterclass in formaler Fragmentierung, während die dunkle Terrasse zur Bühne reiner Abstraktion gerät. Als wäre das alles nicht schon brillant genug, lässt Castelli von rechts oben einen Sonnenstrahl einfallen, der das ansonsten in dunklem grün-braun gehaltene Bild auf einem schmalen Streifen in Rot- und Gelbtönen badet.
Dieser Strahl schien mir symbolisch für mein Ausstellungserlebnis zu stehen. Nach Tagen des „zu wenig“ umarmte ich das „mehr“. High as a kite stolperte ich in die Gassen Dorsoduros zurück. Konnte es auch zu viel des Guten geben? So viel stand fest: Ich würde den Maler besuchen müssen.
Zu Gast in Guglielmo Castellis Turiner Atelier
Wenn man Guglielmo Castelli fragt, wann er wisse, wann es genug sei, erinnert er sich an einen Nachmittag vor mehr als 20 Jahren. Der damals 15-Jährige, wie immer allein in der großen elterlichen Wohnung, liest „100 Jahre Einsamkeit“ von Gabriel García Márquez, die Stelle in der Rebecca mit ihrer Tasche in der Mitte der Wüste ankommt. „Und in der Tasche“, sagt Castelli, „sind die Knochen ihrer Eltern, und ich erinnere mich, wie Márquez die Geräusche beschreibt, die diese Knochen in der Tasche machen, und wie mir plötzlich ganz heiß wird. Die ganze Passage ist nicht so sehr über Rebecca, sondern darüber, was sie vermisst. Wenn ich heute ein Bild male, und weiß, es ist genug – in diesem Moment steigt meine Temperatur. Es ist das gleiche Gefühl wie damals, als Márquez mir den Klang der Knochen beschrieb.“
Genau zwei Monate nach der Begegnung mit seinen Bildern, sitze ich Castelli in seinem Turiner Atelier gegenüber, einer Hinterhofwerkstatt mit schönstem Oberlicht, in der Perserteppiche, indische Stoffe und elegante Flohmarktfunde eine bohemienhafte Fin-de-siècle-Stimmung verbreiten. Neben uns steht ein Tisch, auf dem Skizzenbücher, Zeichnungen und Collagen liegen. Sie, sagt er, sind entscheidend.
„Ich muss mich für jedes Gemälde extrem gut vorbereiten. Ich muss alle Elemente zusammenhaben und sicher sein, dass ich die Balance finde. Alles muss bedacht sein, ich muss den Bildraum, das Verhältnis der Protagonisten zueinander und zu den Objekten, die ich male, genauso planen, wie man beim Theater plant.“ Seine Erfahrung sei: „Wenn du Zweifel hast beim Malen, füllst du diese Zweifel mit Technik. Und das ist gefährlich.“ Castelli ist über Umwege zum Maler geworden, eine Berufsbezeichnung, die ihn, wie er sagt, immer noch mit einem Gefühl der Schuld erfüllt, so als könne er nicht damit gemeint sein. „In Rom, beim Film, gab es in den 1950er-Jahren das, was man heute Scenographer nennt, noch nicht. Es gab den Trovabore. Einer, der Dinge findet. So einer bin ich auch.“
Guglielmo Castelli wird 1987 als Sohn zweier erfolgreicher Anwälte in Turin geboren. Er wächst in großbürgerlichen Verhältnissen auf, ein gefühltes Einzelkind, das entweder liest, oder zeichnet, mit einer Schwester, die so viel älter ist, dass sie schon bald ausziehen wird. Seine Erziehung sei aus der Zeit gefallen und „fucking strict“ gewesen: Die Großmutter steckt ihm feinste Porzellanteller zwischen Rippen und Ellenbogen, auf dass er lerne, bei Tisch anständig zu sitzen; die Nonnen in seiner Schule schlagen ihn, weil er nicht aufhören will, mit der Linken, sprich: mit der Hand des Teufels zu schreiben.
Es ist keine schöne Kindheit, die er beschreibt, aber eine Kindheit in Schönheit: Der Schulweg führt Guglielmo – in seiner Erinnerung immer im Dunkeln – über die Piazze, die de Chirico malte; seine Schuluniform, Divisa genannt, ist am Rücken geknüpft, mit gestärktem weißem Kragen. Die Mitschüler mobben ihn, „aber“, sagt er, „es war okay“. Zurück zu Hause – auch dieser Weg liegt in der Erinnerung meist im Dunkeln – ist er allein mit den Antiquitäten, den vielen Teppichen und einer Bibliothek in der er sich verlieren wird. „Ich lebte in einer Bubble of Loneliness“, sagt Castelli, „in der die Schatten um mich herum manchmal realer wurden als die Menschen.“
Um die Einsamkeit zu lindern, bietet ihm sein Vater in den Sommerferien an, einen Volleyballkurs oder einen Illustrationskurs zu besuchen. Guglielmo entscheidet sich für Letzteres und wird von seinen Lehrern sogleich an die Redakteure des Mondadori Verlag empfohlen, die ihn bitten, Rotkäppchen für eine neue Märchenreihe zu illustrieren. Es hätte ein Erfolg werden können, wenn er nicht das Ende neu interpretiert hätte: Bei ihm verliebt sich Rotkäppchen in den bösen Wolf.
Etwa zur gleichen Zeit entdeckt er in einer Monografie über Parmigianino dessen „Atea“ und beginnt das Porträt der jungen Frau in Öl zu kopieren. Viele, viele Male, wie er sagt, mit durchgängig schrecklichen Resultaten. „Ich war besessen von ihrem Nerz, von den Ohrringen, die an Tränen erinnern, von ihrer unglaublichen Eleganz. Aber auch von diesem schweren, ledernen Handschuh, auf dem ein Falke hätte landen können, diesem Ausdruck absoluter Macht.“
Nach der Schule beginnt er „Scenografia Teatrale“ zu studieren und für die italienische „Vogue“ als Illustrator zu arbeiten. Und während er vom Theater zum Film wechselt und für große Produktionen erfolgreich an Set-Designs und Kostümen arbeitet, bleibt die Malerei für ihn „wie ein Monster, dass ich unter dem Tisch füttere“. Auch wenn er seit „Atea“ nicht mehr aufhören wird zu malen – sich selbst als Maler zu begreifen, fällt ihm lange schwer.
Warum das so war, möchte ich wissen. Wir sitzen jetzt im Bicerin, einem Café mit Holzvertäfelungen aus dem 19. Jahrhundert, und Guglielmo Castelli erzählt, dass das Letzte, was man in Turin, der Geburtsstadt der Arte Povera, als zeitgenössische Kunst ernst genommen hätte, figurative Malerei gewesen sei. „Ich hatte einige Dinge, für die ich mich hätte schuldig fühlen sollen. In der Schule war es meine Teufelshand und dann meine Homosexualität.“ Beides habe er für sich akzeptiert, sagt Castelli. „Nur bei der Malerei hat es länger gedauert. Eigentlich bin ich erst jetzt, mit der Ausstellung in Venedig zum Maler geworden. Erst jetzt fühle ich mich angesprochen, wenn man mich so nennt.“
Am Ort der Schönheit im Castello di Rivoli
Guglielmo Castelli wird sich daran gewöhnt haben müssen. Nicht nur in London und São Paulo, wo seine Bilder in diesem Jahr zu sehen waren. Auch in seiner Heimatstadt gibt es gerade kein Entkommen: Das Castello di Rivoli vor den Toren Turins, immer noch die wichtigste Institution für zeitgenössische Kunst Italiens, widmet ihm zurzeit seine erste museale Einzelausstellung. In wenigen Wochen folgt eine Soloshow in der Kunsthalle Wien.
Dass er nun eine breitere Welle reitet, die bald brechen könnte, ist ihm natürlich bewusst. So wie es vor zehn Jahren kaum figurative Malerei gegeben habe, so gebe es nun eindeutig zu viel davon. „Aber vieles, was wir in den vergangenen Jahren gesehen haben“, sagt er, „dreht sich am Ende um die sexuelle oder wie auch immer geartete Identität der Künstler. Ich kann damit wenig anfangen.“
Guglielmo Castelli erzählt, wie er Ende der 2010er-Jahre für ein Stipendium in Berlin gewohnt habe, nur um zu erkennen, dass er nach Turin gehöre. „Es war ein Sinn für Schönheit, der mich zurückgebracht hat.“ Diese Schönheit sei nichts Ausgedachtes, sie sei real, sagt er – wie zum Beweis bei Kerzenschein in einem Café sitzend, dass vor über 150 Jahren genauso aussah wie heute. „Die Zukunft gibt es nicht. Und in der Gegenwart zu leben, bedeutet für mich interessante Dinge in der Vergangenheit zu finden.“
Man könne sich sein Werk wie ein großes Hotel vorstellen, in dem er von Stockwerk zu Stockwerk gehe, mal hier eine Tür öffnet, mal dort. Ob bei Tag oder Nacht: in jedem Zimmer ein neues Bild, ein neuer Akt, ein neues Kammerspiel. Die Figuren, sagt er, seien letztlich wie wir: „Ob sie gerade lachen oder weinen, am Ende versuchen sie zu überleben. Ich ziehe es vor, von Spitzen und Perlen zu leben – und ich vermute, Ihnen geht es genauso.“
„Sempre Aperto Teatro“: Ist das erste Bild, was ich von ihm sah, letztlich ein Selbstporträt? Er, Guglielmo als Puppetmaster, dessen Puppen ein Eigenleben entwickeln, gar neue Puppen gebären? Der Titel, sagt er, bezieht sich auf ein Gedicht von Patrizia Cavalli. „Sie schreibt: ,Die Bühne gehört mir, dieses Theater gehört mir, ich bin das Publikum, ich bin das Foyer, ich habe diese Fülle, alles gehört mir. So will ich es haben – leer, und leer soll es sein. Voller meiner Verzögerung.‘“
„Das immer geöffnete Theater“, sagt Guglielmo Castelli und zahlt. „Es ist, als hätte sie es für mich geschrieben.“
Guglielmo Castelli: „Inserzioni“, bis 22. Februar 2026, Castello di Rivoli bei Turin; „Sweet Baby Motel“, ab 13. Februar 2026, Kunsthalle Wien
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