Der Lektor ist eine viel gelobte und gleichzeitig unbeliebte Figur. Zur Widersprüchlichkeit seines Sozialcharakters gehört es, ständig irgendwo gebraucht zu werden, jedoch, sobald er seine Arbeit macht, denjenigen, die nach ihm verlangten, auf die Nerven zu fallen. Obwohl Angehöriger eines geistigen Berufs, ähnelt er in mancher Hinsicht einem Handwerker – dem Klempner etwa, mit dem er das Schicksal teilt, dass von ihm Einsatzbereitschaft und Dienstpflichterfüllung erwartet werden. Er wird auch gern für Fehler verantwortlich gemacht, die er nicht begangen hat.

Obwohl er es ist, der dem Auftraggeber bei der Schadensreparatur helfen soll, glaubt dieser, ihn einzig zum Zweck der Zeitersparnis angeheuert zu haben, und behandelt ihn wie einen Handlanger. Deshalb ist noch das niedrigste Honorar zu hoch, Zuschläge für besondere Leistungen gelten als unverschämt.

Wie der Klempner ist der Lektor Gegenstand von Anekdoten, die darum kreisen, welch ein hinderliches Wesen er ist. Verbreiter und Konsumenten solcher Kolportagen sind sich als Schriftsteller oder wenigstens als Freie Autoren bezeichnende Textproduzenten. Katalog- und Werbetexter, die ein pragmatisches Verhältnis zu ihrem Beruf haben, sind weniger heikel. Weil sie wissen, dass sie sich der Sprache wie eines Hilfsmittels bedienen, fühlen sie sich von Lektoratseingriffen selten belästigt. Ähnlich verhält es sich mit literarischen, kultur- und geisteswissenschaftlichen Autoren, die ihre Grenzen kennen und dankbar sind, wenn der Lektor sie auf der Grundlage des Geschriebenen dahin führt, wohin das Geschriebene von sich aus möchte. Die schlimmste Kundenklientel sind Mediokre, die sich für originäre Schöpfer halten. Für sie ist jede sprachliche Präzisierung eine Entstellung, jede Tilgung schaler Metaphern ein Eingriff in die Gedankenfreiheit, jedes strenge Lektorat Zensur.

Tatsächlich waren Lektoren im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht selten inoffizielle Zensoren. Dass beide Tätigkeiten mitunter ineinander übergingen, war Hauptgrund für den Zorn eines der verständigsten Lektorenkritiker der bürgerlichen Epoche: Karl Kraus. Kraus polemisierte in der „Fackel“, die er nicht zufällig beinahe als Ein-Personen-Betrieb führte, nicht nur gegen Lektoren, sondern gegen sämtliche Repräsentanten der publizistischen Arbeitsteilung: gegen den Korrektor, den Setzer und den Drucker, gegen den Vertreiber und den Rezensenten. Dabei war er keineswegs ein Gegner solcher Arbeitsteilung. Im Gegenteil: Er verachtete das Pathos des aus sich selbst heraus schaffenden Originalgenies und pochte darauf, dass Autorschaft institutionelle Differenzierung voraussetzt, dass also der geschriebene Text unterschiedliche Bearbeitungsstufen durchlaufen muss, um reif für die Veröffentlichung zu sein. 

Kraus’ Genörgel über die Lektoren verdankte sich keiner Missachtung der an der Entstehung eines gedruckten Textes beteiligten Berufe, sondern der Überzeugung, dass er jeden einzelnen Schritt des arbeitsteiligen Prozesses besser hätte zum Gelingen bringen können als die oft stümperhaften Mitarbeiter. Kraus war die leibhaftige Synthesis des arbeitsteiligen Prozesses, weil er jede Einzelheit in ihrem Verhältnis zum Ganzen begriff.

Kooperation bei geistiger Arbeit ist nur sinnvoll, wenn jeder Beteiligte das Objekt, an dessen Vollendung er mitarbeitet, dadurch verbessert. Wenn die Arbeitsteilung das Produkt der Arbeit medioker macht, ist es besser, auf sie zu verzichten: Unter dieser Maxime betrachtete Kraus die Funktion des Lektors. Er verachtete die fantasielosen Grammatiker unter den Korrektoren, die schematisch alle fehlenden Kommata nachtrugen und so den Ausdrucksgehalt, der manchmal nach formalen Fehlern verlangt, beschädigten.

Im Fall von Kraus lässt sich an der Polemik gegen den Lektor nachvollziehen, welches die Qualitäten eines guten Lektors sind. Sie betreffen die Herstellung eines der Sache angemessenen Verhältnisses von Nähe und Distanz zwischen Autor, Lektor und Text. Der Lektor muss wissen, dass allein der Autor Urheber des Textes und er selbst dessen Geburtshelfer ist. Insofern ist der Lektor ein Handwerker: ein Gehilfe und kein Schöpfer. Der Autor umgekehrt darf nie vergessen, dass der Text, an dem er arbeitet, erst durch die Arbeit mit dem Lektor, das Ineinander von Verständigung und Einspruch, zu sich selbst kommen kann. Insofern ist der Lektor mehr als ein Handwerker: Hermeneutiker. Im gelungenen Fall versteht er das Werk, das er lektoriert, besser als der Autor, weil er es nicht selbst hervorgebracht hat. Er ist Anwalt des Textes und muss in dieser Funktion, wenn es nötig ist, auch dem Autor widersprechen. Diese hermeneutische Dimension der Arbeit des Lektors ist der Arbeit des Übersetzers, wie sie der James-Joyce-Übersetzer Klaus Reichert in „Die unendliche Aufgabe“ (2003) und Esther Kinsky, die Henry David Thoreau übertrug, in „Fremdsprechen“ (2013) beschrieben haben, nicht unähnlich. Auch der Lektor muss das Werk, das er bearbeitet, bis in seine Verästelungen kennen, um es eingreifend und umschreibend zu sich selbst zu bringen.

Mitschreiben und Gegenlesen

Mitschreiben und Gegenlesen, Mitlesen und Gegenschreiben: So lassen sich die Aufgaben des Lektors auf den Punkt bringen. Weil dem Beruf der Ruch einer Helfertätigkeit anhaftet, haben darüber weniger Lektoren öffentlich Rechenschaft abgelegt als Übersetzer über ihre Arbeit. Eine Ausnahme ist das 2005 erschienene Buch „Die diskreten Kritiker“, in dem der Frankfurter Lektor Klaus Siblewski am Beispiel von Ernst Jandl, Peter Härtling und anderen das Verhältnis zwischen Lektor und Autor beschreibt und darüber nachdenkt, weshalb ehemalige Lektoren manchmal Autoren werden. In Siblewskis Erklärung spielt der Begriff der Diskretion eine Schlüsselrolle.

Der Lektor sei weder ein „Textingenieur“, dessen Aufgabe darin bestände, die marktgerechte Passfähigkeit des zu lektorierenden Werks sicherzustellen, noch erschöpfte sich seine Aufgabe in einem „Kult des Dienens“. Sein Verhältnis zum Autor und zu dessen Text ist sachlich und intim zugleich: Gerade, weil er sich in jeder Nuance des Textes auskennt, steht er ihm als unbestechlicher Kritiker gegenüber. Die Beziehung des Lektors zum Autor muss eine persönliche, aber nie bloß vertrauliche sein: Beide müssen einander schätzen, vertrauen, aber auch vor den Kopf stoßen dürfen. Solch kritische Diskretion nennt Siblewski „gezieltes Mitschreiben“: „das Nachdenken über Dramaturgien, Sätze, Vokabular, Zeichensetzungen“, über das „höchst eigene Sprachgewebe“.

Die gegenwärtige Entwicklung, die durch Professionalisierung und Inflationierung des Lektorenberufs geprägt ist, vielleicht auch durch Infragestellung infolge von KI, durchlöchert jenes Sprachgewebe. Siblewski hat die Entwicklung vorausgesehen, als er diagnostizierte, dass die neue Wirklichkeit des Berufs mit den Stellenausschreibungen beim Arbeitsamt konvergiere, in denen es heißt: „Lektorinnen und Lektoren prüfen Autorenmanuskripte inhaltlich und sprachlich. … Je nach Intensität der Beziehung erstreckt sich die Zusammenarbeit vom Exposé über die ersten Probekapitel bis zum Lektorat des vollständigen Manuskripts. Auch für Titelvorschläge, Katalog- und Umschlagtexte kommen Anregungen vom Lektor oder von der Lektorin.“

Die zunehmende Verwandlung vom Lektor zum Sachbearbeiter reflektiert die Expansion der Verwaltung in der verlegerischen Arbeit. Sie macht das Lektorieren zu einer vom Gegenstand abgelösten Qualifikation, die statt spezifisch gewonnener Erfahrung auch nur durch Anlernen oder Programmieren bestimmten Techniken möglich scheint. Dadurch schrumpft die kritische Diskretion, die Lektor und Autor verband, zu einem formellen Verhältnis.

Entpersönlichung der Lektoratsarbeit

Ausdruck solcher Entpersönlichung ist das „Änderungen nachverfolgen“-Tool, das aus der Lektoratsarbeit nicht mehr wegzudenken ist. Gestisch ist es die vollendete Indiskretion: Es imitiert nicht nur eine Rotstiftkorrektur, die an die Arbeit eines Gymnasiallehrers erinnert, als bestände Lektorieren in der Entscheidung über Richtig und Falsch statt in der Entscheidung über Angemessenheit. Es imitiert auch im sogenannten Dialogfeld das real kaum mehr stattfindende Gespräch zwischen Lektor und Autor. Die Sprechblasen, die den Textkommentar ersetzen, wirken wie das Dazwischenplappern von einem, der zu allem seinen Senf dazugibt und dem Autor Bemerkungen, Nachfragen und assoziative Einfälle ins Ohr flüstert. Der Autor wiederum muss statt der Autorität des Lektors nun der Autorität des Kommentarprogramms gehorchen und Änderungen und Sprechblasen eine nach der anderen „annehmen“ oder „ablehnen“ – als gälte für das Verhältnis zwischen Autor und Lektor statt einer sich wechselseitig korrigierenden Sachautorität eine vom Ja-Nein-Algorithmus generierte Zustimmungsregel wie beim konsensuellen Liebesakt.

Wohlgemerkt: Das „Änderungen nachverfolgen“-Tool kann, sachgemäß gebraucht, nützlich und zeitsparend sein. Idealerweise braucht es am Ende eines „Änderungen nachverfolgen“-Lektorats kein persönliches Gespräch zwischen Autor und Lektor mehr. Was zuvor die Substanz der Kooperation ausmachte: der Umweg, der in geistiger Arbeit immer notwendig ist, um ans Ziel zu kommen, wird als Firlefanz ausgesondert, und das Ergebnis heißt dann „Qualitätssicherung“. Solche Qualitätssicherung stellt das Mittelmaß sicher: Autoren, die nicht schreiben können und eigentlich keine sein dürften, werden durch den Lektor, der an Forschungsuniversitäten und in Fachverlagen immer häufiger als eine Art Ghostwriter fungiert, in die Mitte gehoben, während unbotmäßige Geister durch ihn aufs zielgruppengemäße Mittelmaß gestutzt werden. Solche Aussichten sind auch ein Grund, weshalb Lektoren den Beruf wechseln und zu Autoren werden – als die sie dann allerdings immer seltener einen Lektor finden.

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