Am kommenden Freitag wird das Theatertreffen eröffnet. Das Berliner Publikum darf sich dann auf die Gastspiele der zehn Inszenierungen freuen, die eine Kritikerjury unter Hunderten als besonders bemerkenswert ausgewählt hat. Mit „Bernarda Albas Haus“ und „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ kommen allein zwei Abende vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg, das unter Karin Beier zum aufregendsten Theater der Republik geworden und Dauergast beim Theatertreffen ist. Zum allerersten Mal eingeladen ist hingegen das Theater Magdeburg mit „Blutbuch“. Die beiden Städte an der Elbe stehen für Theaterwirklichkeiten, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Karin Beier sitzt an ihrem Schreibtisch, die Fenster in ihrem Büro stehen offen. So weht es nicht nur den Frühling herein, sondern auch die Geräuschkulisse von St. Georg, dem rauen Stadtteil am Hamburger Hauptbahnhof mit vielen Obdachlosen, Armen und Drogenabhängigen. Eine Realität, vor der das Theater nicht flüchten darf, der es sich stellen muss. Für die 1965 geborene Regisseurin, die seit zwölf Jahren das Deutsche Schauspielhaus Hamburg leitet, ist Theater kein abgeschotteter Raum. Kunst braucht Reibungsfläche. Mit „Volpone – oder der Kampf ums Überleben“ steht für Anfang Mai eine Premiere mit Wohnungs- und Obdachlosen aus Hamburg auf dem Spielplan.
„Unliebsame Dinge nicht wegbügeln“
Beiers Theater sucht die Konfrontation mit der Welt. Wer von der ungeschminkten Wirklichkeit sprechen will, darf – im übertragenen Sinne – auf die Theaterschminke nicht verzichten. Soll heißen: Beier glaubt an das Theater und seine Mittel. In einer Zeit, in der es von außen und aus sich heraus infrage gestellt wird. „Wir brauchen diskursive Komplexität statt Schlagwortabtausch“, sagt Beier. „Auch unliebsame Dinge dürfen nicht einfach weggebügelt werden, sonst geht das Theater kaputt. Wir dürfen unsere Privilegien nicht selbst verspielen.“ Das Theater bietet die Freiheit, Konflikte mit künstlerischen Mitteln auszutragen. Und Beier? Sucht immer nach den besten Mitteln.
Der Erfolg bestätigt Beier. Neben ihrem Schreibtisch steht die Urkunde „Theater des Jahres 2024“. Bereits in ihrer Kölner Zeit bekam sie mehrfach die begehrte Auszeichnung der Fachzeitschrift „Theater heute“. Unzählige Inszenierungen – auch ihre eigenen – wurden zum Theatertreffen eingeladen. Vergangenes Jahr führte Beiers „Laios“ mit Lina Beckmann zu wahren Begeisterungsstürmen – und nun schickt man wieder zwei Inszenierungen in die Hauptstadt. Wie schafft man das? „Gute Texte, gute Schauspieler“, antwortet Beier. Und ein Spielplan, der Bewährtes und Neues verbindet. 1200 Plätze zu füllen, das ist selbst in einer Theaterstadt wie Hamburg eine Aufgabe.
Knapp 300 Kilometer elbaufwärts sieht es anders aus. „Magdeburg ist keine traditionell gewachsene Theaterstadt“, sagt Bastian Lomsché. Anders als in Sachsen-Anhalts Kulturhauptstadt Halle an der Saale gibt es in der Landeshauptstadt Magdeburg kein ausgeprägtes Bildungsbürgertum, für das ein Theater zum Selbstverständnis gehört.
Der Dramaturg Lomsché, 1983 geboren, leitetet zusammen mit der Regisseurin Clara Weyde und dem Kostümbildner Clemens Leander seit drei Jahren das Magdeburger Schauspiel. Zuvor war er Dramaturg bei Beier in Hamburg. Bereits die Eröffnung „Das Leben ein Traum“ wurde als künstlerischer Neubeginn für die Industriestadt im Osten gefeiert.
Überbordende Spielfreude
Das Magdeburger Theater ist nur einen kleinen Fußweg vom Bahnhof entfernt, doch anders als in Hamburg sind die Straßen fast menschenleer. Auf dem Spielplan steht „Blutbuch“ in der Regie von Jan Friedrich, der Überraschungserfolg nach dem preisgekrönten Roman von Kim de l’Horizon. Und die erste Einladung zum Theatertreffen in der Geschichte des Magdeburger Theaters. Ein Abend über Selbstfindung und schwulen Sex, aber auch eine Liebeserklärung an Mutter und Großmutter. Lomsché geht kurz zur Kasse: 137 Karten sind bereits verkauft. Bei einem Saal mit 200 Plätzen sind das knapp 70 Prozent, die Dimensionen sind in Magdeburg deutlich kleiner als in Hamburg.
Als die Vorstellung von „Blutbuch“ beginnt, sind fast alle Plätze besetzt. Alte und Junge mischen sich, einige – so hört man – sehen das Stück bereits zum zweiten oder dritten Mal. Es ist ein bunter Abend, der in seiner überbordenden Spielfreude auch diejenigen Zuschauer anspricht, die lebensweltlich wenig mit der queeren Großstadtwelt zu tun haben. Es gibt stehenden Applaus. „Unser Theater ist eines, das die Fantasie anspricht und die Mittel des Theaters nutzt“, sagt Lomsché. „Naturalismus interessiert uns weniger, das kann der Film besser. Wir suchen, was das Theater exklusiv hat.“
„Von Anfang an wollten wir viel in die Stadt rausgehen“, sagt Lomsché. „Wir wollen mutig bleiben.“ So ist für die nächste Spielzeit auch ein Stück über den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt geplant. An jenem Tag war Vorstellung im Theater, ein großes Glück für die Angestellten, von denen sonst vermutlich einige beim Glühwein um die Ecke gewesen wären. Auch Lomsché hatte Abenddienst. Mit den ersten Nachrichten wurde die Vorstellung abgebrochen, erst nach den Feiertagen öffnete das Theater wieder, mit einer Schweigeminute vor den restlos ausverkauften Vorstellungen. Es schien, als suchte die Stadtgesellschaft etwas Trost und Zuflucht im Theater. Was Lomsché bis heute schockiert, war der mediale Deutungskampf nach dem Anschlag, die Mahnwachen und Demonstrationen von AfD und Neonazis vor den Türen.
Druck von der AfD
Der „Kulturkampf“ betrifft auch das Magdeburger Theater. So fordert der AfD-Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider eine „kulturpolitische Wende um 180 Grad“, hin zu romantischer Deutschtümelei. Wie reagiert das Theater darauf? „Ich halte nichts davon, ständig Parolen ans Theater zu hängen“, sagt Lomsché. „Als Kunstschaffende möchten wir den Rundumblick behalten und nicht selbst zum Akteur in einem politischen Spiel werden. Wir wollen im Theater nicht von der Bühne predigen.“
In Magdeburg sucht man nach künstlerischen Antworten. Zum Beispiel mit „Onkel Werner“, einer Tschechow-Überschreibung zum Thema Rechtspopulismus im Osten. Und Ende Mai kommt mit „Krieg und Frieden“ nach Tolstoi eine der drängendsten Fragen der Gegenwart auf die Bühne. Die Textfassung stammt von Ronald Schimmelpfennig, der in Hamburg für Beier den Antikenmarathon „Anthropolis“ geschrieben hat, die Regie macht Charly Hübner, der bei Beier als Schauspieler im Ensemble ist. Der nächste Höhepunkt der jungen Dreierleitung? Wird Magdeburg nun doch zur Theaterstadt?
Lob des Kopfschüttelns
Zurück nach Hamburg, wo es seit Lessings Tagen ein kunstsinniges, liberales Bürgertum gibt. „Im Vergleich zu vielen Theatern im Osten geht es uns gut. Es gibt keinen Druck von Rechtsaußen“, sagt Beier. „Das heißt aber nicht, dass es gar keinen Druck gibt, allein durch die sozialen Medien. Da spiegelt sich oft der Wunsch nach dem Ponyhof, niemand darf brüskiert werden.“ Beier sorgt sich, dass die Freiräume im Theater verschwinden. „Das Problem ist, dass wir dazu neigen, zusammen mit dem Publikum vermeintlich korrekte Haltungen einzuüben. Dann nicken wir am Ende alle freundlich im Gleichtakt der gemeinsamen Gesinnung. Dabei ist Kopfschütteln im Theater viel notwendiger.“
Freunde der Weimarer Klassik mögen bei der fröhlichen Goethe-Zerpflückung „Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh“ nach Georges Perec den Kopf schütteln, aber eher vor Lachen. Regisseurin Anita Vulesica und ihr wunderbares Ensemble spielen einen literarischen Algorithmus, der – wie eine KI – Muster erkennt und neue Muster bildet. Auch für Beier eine „außergewöhnliche Arbeit“, bei der sich Experiment und Liebe zur Schauspielerei verbinden. Die nächste Spielzeit, verrät Beier, eröffnet Frank Castorf mit „Hamlet“. „Ein Stück über die Kraft des Theaters“, sagt sie. Und mit der berühmten „Mausefalle“ auch ein Stück darüber, wie Kunst die Wirklichkeit bewältigen kann.
So unterschiedlich die Theaterwelten in Hamburg und Magdeburg sind – zwischen West und Ost, Sälen mit 1200 und 200 Plätzen, Dauergast und Neuling beim Theatertreffen –, so zeigen beide Häuser auf ihre Weise, dass das Theater als „Laboratorium sozialer Fantasie“ (Heiner Müller) längst nicht ausgedient hat.
„Wir sind nicht verpflichtet, politisch korrekt zu sein“, sagt Beier. „Das Theater als öffentliches Forum hat die Aufgabe, Diskussionen loszutreten.“ Wie das geht, wird am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und am Theater Magdeburg auch nach dem Theatertreffen zu sehen sein.
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